„Das ist Hamburg“, singt Jan Delay im Song „Rave Against the Machine“ auf seinem dritten Studioalbum „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“. Welchen Ort er in dieser Anfangszeile meint, wird nicht klar. Doch das Albumcover zeigt einen ganz bestimmten Ort: die Sternbrücke. Diese fast schon legendäre Kreuzung zwischen Stresemannstraße und Max-Brauer-Allee unter der Eisenbahnbrücke gibt es bald nicht mehr. Ende 2023 ist Schluss mit Club- und Subkultur an der Sternbrücke.
So einen Ort wird es in Hamburg nicht mehr geben
Daniel Höötmann, Astra Stube
Die Geschichte zum Ende nimmt Mitte der 2010er-Jahre ihren Anfang, als die Deutsche Bahn bekannt gibt, dass sie die Sternbrücke erneuern will. Doch der Neubau ist umstritten. Einige Expertinnen und Experten sind im Gegensatz zur Deutschen Bahn der Auffassung, dass die Brücke trotz der alten Bausubstanz saniert werden könne. Mit der neuen Brücke soll auch der Straßenraum erneuert und erweitert werden. Mittlerweile geht es bei der „Initiative Sternbrücke“, die sich jahrelang als einer der größten Gegner des Neubaus positioniert hat, nicht mehr darum, ob der Neubau kommt, sondern wie. Zurzeit sammelt die Initiative spenden für eine Klage gegen die „Monster-Sternbrücke“. Doch egal, welche Gestalt die neue Brücke haben wird, das Ende für die Sternbrücke als Club- und Kulturstandort ist besiegelt.
Hamburgs Sternbrücke: Ein Ort des Ursprungs
Dabei kann das Areal um die Bahnbrücke als eine der Keimzellen der Hamburger Clubszene bezeichnet werden. Denn hier gleich um die Ecke war von 1984 bis 2003 das legendäre „Kir“ beheimatet. Bands wie Die Sterne, Tocotronic, Sportfreunde Stiller, New Model Army und Soundgarden spielten im „Rückzugsraum für alles Düstere, Experimentelle, Sperrige von Gothic über Elektro bis hin zum damals unverbrauchten Britpop“, wie es „Die Zeit“ formulierte. Dazu wären „all die Clubs wie beispielsweise Molotow, Hafenklang, Astra-Stube oder Uebel & Gefährlich nicht denkbar gewesen, wenn es nicht eine Urzelle gegeben hätte – das war das Kir“, sagte der ehemalige Betreiber Clemens Grün dem NDR.
Mittlerweile ist das Kir nach Stellingen gezogen und an der Sternbrücke gibt es heute noch fünf Clubs, die ihre ganz eigene Subkultur geformt haben: Das Fundbureau hat seit 1998 geöffnet, die Astra Stube gibt es seit 1999, der Waagenbau existiert seit 2003, 2016 kam die Beat Boutique dazu und die Bar 227 veranstaltet auch schon seit mehr als 20 Jahren Konzerte an der Sternbrücke.
Doch ihre Zeit läuft ab. Spätestens am 8. Januar 2024 müssen die Clubs schließen. Dann wird „der Ort, wo Hamburg noch am urbansten ist“, wie Regisseur Fatih Akin die Sternbrücke im Film „Sternstunde Null“ bezeichnet, sich radikal verändern.
Die Menschen werden fehlen
„So einen Ort wird es in Hamburg nicht mehr geben“, sagt Daniel Höötmann von der Astra Stube. Er arbeitet seit 15 Jahren in dem kleinen Club, der zurzeit ein Soli-Festival veranstaltet. „Ich war die ersten Konzerte von unserem ‚Abriss mit Freund:innen Festival‘ nicht da. Nicht weil ich die Bands scheiße finde, sondern weil ich es nicht konnte“, sagt er und zieht an seiner Zigarette. „Am Samstag war ich dann bei Matze Rossi, der zum 13. Mal bei uns gespielt hat. Das war schon sehr emotional und mir ist bewusst geworden: Das Ding ist hier bald vorbei.“
Höötmann war das erste Mal vor 17 Jahren in der Astra Stube: „Wir hatten Tickets für ein Konzert einer Band aus Münster. Wir kamen hier rein und es war bumsvoll. Ich habe nie so viele Menschen in diesem Laden gesehen. Ich weiß noch, dass ich auf der Bühne stand, um das Konzert zu sehen, weil sonst kein Platz mehr war. Nach dem Abend war mir klar‚ wenn ich irgendwann mal in Hamburg wohne, will ich hier arbeiten.“
Auch Marco Francke, einer der Betreiber der Beat Boutique auf der anderen Straßenseite sieht dem Abschied entgegen. Für ihn sind es die Menschen, die den Ort ausmachen und fehlen werden. „Hier ist eine ganz besondere Stimmung. Es ist nahezu gewaltfrei, es ist divers, verrückt und bunt. Die Menschen hier, das sind Locals, nicht irgendwelche Touris, die in ein Viertel einfallen und wieder gehen. Die Leute, die hier herkommen, wollen nächstes Wochenende wiederkommen“, sagt er.
Ein Abend ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Ein junger Mann mit langen Haaren, geschminkten Augen und einem Kleid sei durch den Laden gehüpft. Gleichzeitig hätte in der einen Ecke ein weibliches Pärchen geknutscht und in der anderen hätte ein großer Dude gerade ein Mädel kennengelernt und auch sie waren am knutschen. „Dann kamen drei Fußballjungs rein, die etwas männerich waren und ich dachte: ‚Die machen das hier jetzt kaputt.‘ Doch da täuscht man sich schnell, denn die drei lagen sich erst mal herzlich in den Armen, sie hatten sich wahrscheinlich lange nicht gesehen. Und bei alldem ist nur mir hinter dem Tresen aufgefallen, dass diese vier Szenen gleichzeitig passiert sind. Das hat mich wahnsinnig gerührt.“
Die Menschen hier, das sind Locals, nicht irgendwelche Touris
Marco Francke, Beat Boutique
Sternbrücke: Kleine werden groß
Solche Szenen wird es 2024 hier nicht mehr geben. „Für mich bedeutet der Abriss, dass die Subkultur komplett weg ist“, sagt Höötmann. Die Sternbrücke zieht viele Menschen an: Von Indie-Fans in der Astra Stube über Elektro-Jünger im Fundbureau und in der Beat Boutique bis hin zu den Techno- und HipHop-Fans im Waagenbau. Ein so dichtes und vielfältiges Angebot gibt es abseits der Reeperbahn sonst nicht. „Die Stadt ist in der Innenstadt einfach sehr voll, da ist kein Raum, wo so etwas wie die Sternbrücke wild entsteht“, sagt Marco Francke.
Mit der Sternbrücke verschwinden auch Räume für kleinere Bands. Denn Clubs wie die Astra Stube bieten genau diesen Bands eine Bühne. „Ich wüsste nicht, wo die sonst in Hamburg spielen sollten“, sagt Höötmann. „Die Clubs auf dem Kiez zum Beispiel machen keine Konzerte mit fünf bis 15 Gästen. Bei uns gibt es das. Damit waren wir für ganz viele Bands auch ein Sprungbrett, ob das AnnenMayKantereit oder Faber war, die haben alle hier gespielt.“
Perspektive und Fragezeichen
So hart der Abschied auch ist, für drei der fünf Clubs gibt es eine Perspektive. „Wir wollen natürlich versuchen, das gute Gefühl mitzunehmen“, sagt Francke. Für ihn und seine Beat Boutique geht es wie auch für das Fundburaeu und ab 2025 auch für die Bar 227 hinter den Deichtorhallen weiter. Die Kasematten unter der Bahnstrecke werden für alle drei Clubs das neue Zuhause. „Die Stadt hat da die Ärmel hochgekrempelt und uns quasi gerettet“, sagt Francke. Wie ein Sprecher der städtischen Immobiliengesellschaft Sprinkenhof gegenüber SZENE HAMBURG bestätigt, können die ersten Clubs voraussichtlich 2024 am neuen Standort öffnen.
Weniger konkret ist es bei der Astra Stube und dem Waagenbau. Sie haben einen Umzug in die Bahnkasematten hinter den Deichtorhallen nach SZENE HAMBURG-Informationen abgelehnt. Aktuell gibt es fortgeschrittene Gespräche über einen zentralen Standort in Altona, heißt es aus Clubkreisen. Doch ob und wann es hier eine Zukunft für die beiden Clubs geben kann, stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest. Sicher ist: Der Name Astra Stube wird mit der Sternbrücke verschwinden – ein neuer Club bekäme auch einen neuen Namen. Und wenn es mit einem Umzug nichts wird „waren es auch 15 verdammt coole Jahre“, sagt Höötmann.
Die Stadt hat da die Ärmel hochgekrempelt und uns quasi gerettet
Marco Francke
Zum Abschied wird’s laut, schmutzig und schön
„Boah, das wird wild“, sagte Claudia Mohr vom Waagenbau, angesprochen auf den Abschiedsmonat und die letzte Party, im Interview mit SZENE HAMBURG. Genau wie der Waagenbau, plant auch die Beat Boutique einen standesgemäßen Abschied. „Für die letzten sechs Wochen haben wir unsere alten Stars, Leute, die lange mit uns zusammengearbeitet haben, hergeholt und mit denen noch einen Abend gefeiert“, sagt Francke. Doch „Silvester wird anders. Wir hatten sieben Jahre elektronische Tanzmusik und Silvester 2023/24 wird’s 80er-Jahre Hits, Hits, Hits geben, von Nena bis Sandra, einmal komplett anders. Am letzten Abend erlauben wir uns einen Spaß und lachen und tanzen und singen.“
Etwas ruhiger wird es in der Astra Stube. Bis Silvester spielen noch viele alte Bekannte wie Pohlmann (20.12. ab 20 Uhr) in dem kleinen Club. Das letzte Konzert gibt es dann am 30. Dezember 2023 ab 20.30 Uhr mit „Herrenmagazin & Junges Glück“ und weiteren Gästen. „Silvester machen wir dann ganz normal auf, kein Eintritt und wer kommen will, kann kommen“, sagt Höötmann. Vielleicht klingt dann aus einem der Clubs an diesem Abend noch der Song „Hoffnung“ von Jan Delays Album „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“. Darin singt er: „Denn wenn du denkst es geht nicht mehr/Dann kommt von irgendwo diese Mukke her/Und sagt dir, sagt dir, dass alles besser wird/Und dass die Hoffnung als allerletztes stirbt.“