„An den Abenden wird hier oft getanzt“

More Than Shelters

Ein Hamburger Künstler entwarf Zelte, heimelige Notunterkünfte für Rückzug und Gemeinschaft – auf einem Acker neben der A7

„Eins“ – „Eins!“, hallt es mehrstimmig zurück. „Zwei“ – „Zwei!“ „Drei“ – „Drei!“ … Aufgeschlagene Lehrbücher, aufmerksame Blicke. Ein Lehrer bringt einer Gruppe von Flüchtlingen deutsche Zahlen bei. Sie sitzen an Tischen in einem Zelt, am Nachbartisch ein Iraker mit einem Geschicklichkeitsspiel. Es ist das letzte von vier Zelten in Form von Iglus, die L-förmig angelegt und mit Durchgängen verbunden sind.

Eine Chai-Lounge mit Teppichboden – mitten auf dem Acker

Die vorigen beiden Zelte sind mit Sofas und Sitzwürfeln ausgestattet. An den Seiten stehen niedrige Regale mit Brettspielen und Büchern. Im Eingangszelt ist ein Tresen mit Mandarinen, Gebäck, Tee und Kaffee aufgebaut. Hier müssen sich alle, die in die Teestube hineinwollen, die Schuhe ausziehen. Das ist angenehm, denn die Zelte sind beheizt und mit einem flauschigen Teppichboden ausgelegt. Überall im Raum sitzen Männer, manche plaudern miteinander, andere sitzen nur da und staunen über den Trubel.

More Than Shelters Hamburg 1

Wir befinden uns in der Chai-Lounge für Männer mitten auf dem Acker der Erstaufnahme Schnackenburgallee direkt an der A 7. Weil heute die offizielle Eröffnung der „Sozialräume“ stattfindet, dürfen auch Frauen hinein. Das Fernsehen ist da, Fotografen, Presse, freiwillige Helfer, Vertreter der Anstalt öffentlichen Rechts „Fördern und Wohnen“, die die Flüchtlingsunterkunft betreut. Kein Wunder, dass sich manche ungläubig umsehen, normalerweise ist das Terrain recht abgeschottet.

Diese Zelte unterscheiden sich von den großen viereckigen Notunterkünften in denen die Betten aufgestellt sind. Sie bilden ein Hexagon und alle sechs Seiten können mit einem weiteren Zelt verbunden werden. Diese Flexibilität ermöglicht einen individuellen Aufbau, der den Bedürfnissen vor Ort angepasst ist. Entwickelt hat das sogenannte „Domo“, der Künstler, Designer und ehemalige Dozent der HFBK Daniel Kerber.

Menschenwürdige Unterbringung von Menschen in Not

Er gründete 2012 das Hamburger Sozialunternehmen More Than Shelters (MTS). Dort werden seither menschenwürdige Konzepte für die Unterbringung von Menschen in Not entwickelt. MTS hat an internationalen Krisenherden, wie in Jordanien und in Nepal, Erfahrungen gesammelt, die jetzt Hamburg zugutekommen könnten.

Eine wichtige Erkenntnis ist die Einrichtung von Sozialräumen. Nüchtern betrachtet eine Präventionsmaßnahme, die Konflikten und Aggressionen entgegenwirkt, menschlich gesehen eine schlichte Notwendigkeit in derart dicht belegten Lagern. Doch Hamburg scheint das Problem noch nicht recht erkannt zu haben. „Wir versuchen seit Monaten mit der Stadt ins Gespräch zu kommen“, erzählt Daniel Bücher, Mitarbeiter von MTS, vor der Chai-Lounge. „Leider werden wir immer wieder vertröstet“. Das diese Domos nun der Erstaufnahme Schnackenburgallee als „Sozialräume“ zur Verfügung gestellt werden, ist Spenden zu verdanken.

Schnell und unbürokratisch, aber komplett spendenfinanziert

More Than Shelters Hamburg 3„Die provisorischen Notlager“, führt Daniel Bücher weiter aus, „sind voll. Und den Menschen hier fehlen Räumlichkeiten, in denen sie lernen, spielen oder sich einfach versammeln können. Deshalb haben wir diese Chai-Lounge für Männer organisiert. Das ging schnell und unbürokratisch, ist aber komplett spendenfinanziert.“ Strahlend erzählt er weiter: „Unsere Domos stehen hier seit einer Woche, seither sind schon etwa 300 Männer da gewesen, und an den Abenden wird hier oft getanzt.“

Je nach Zusammensetzung der Unterkünfte können natürlich auch Kinder- sowie Stillräume für Frauen eingerichtet werden, gerade im kalten norddeutschen Winter sind das wichtige Rückzugs- und Versammlungsorte. Das Engagement von MTS geht aber weit über die Einrichtung von Sozialräumen hinaus. So sagt Daniel Bücher mit Blick in Richtung der sanitären Zeltanlage: „Die Stadt kann von unserem Wissen und unseren Erfahrungen in internationalen Flüchtlingscamps profitieren. Wir hoffen, dass es bald zu einer engen Zusammenarbeit kommt!“

Nimmt die Stadt das Hilfsangebot an?

Dann ertönt laute Musik aus dem Zelt. Als wir hineingehen, hat sich in einem Domo ein Kreis gebildet. In der Mitte tanzen zwei Männer. „This is music from Afghanistan“, klärt mich der junge Mann neben mir lächelnd auf und zeigt auf die Tänzer „and people from Afghanistan.“ Er freut sich über das Spektakel und klatscht mit den anderen im Rhythmus zur Musik. Hoffentlich nimmt die Stadt das Hilfsangebot von MTS bald wahr, sie scheinen wirklich zu wissen, wie man Menschen in der Not hilft.

Text: Lisa Scheide
Foto: Philipp Jung

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