Derzeit wird in Deutschland eine Pionierin der afroamerikanischen Literatur wiederentdeckt. Ann Petrys „The Street“ erzählt von einer schwarzen Frau, die im New York der 1940er Jahre keine Chance bekommt
Text & Interview: Ulrich Thiele
Ann Petrys Debütroman war bei Erscheinen im Jahr 1946 ein großer Wurf. Die literarische Welt horchte auf, mehr als 1,5 Millio nen Exemplare von „The Street“ wurden verkauft, Petry wurde mit dem Houghton Mifflin Literary Fellowship Award ausgezeichnet. Und das in einer Zeit, in der afroamerikanische Literatur eine reine Männerdomäne war.
Petry wurde 1908 in Old Saybrook, Connecticut, geboren, kam aus einer relativ privilegierten Familie von Apothekern und studierte auch selbst Pharmazie. 1938 zog sie mit ihrem Mann nach New York, wo sie erstmals das Elend der Schwarzen in Harlem zu sehen bekam. Um diese Eindrücke literarisch bearbeiten zu können, studierte sie an der Columbia University.
Raus aus dem Elend New Yorks
In „The Street“ versucht Lutie sich und ihren achtjährigen Sohn Bubb aus diesem Elend zu befreien. Sie hat als junge Frau ihre Jugendliebe geheiratet. Doch wie so viele schwarze Männer zu jener Zeit findet ihr Mann Jim keine Arbeit. Lutie arbeitet als Hausmädchen auf dem Land für eine reiche, weiße Familie, die Chandlers. Ihre eigene Familie sieht sie nur wenige Tage im Monat. In der Welt der Reichen zelebriert man den American Dream.
Nach einiger Zeit färbt der Glaube, „dass jedermann reich werden könnte, wenn er wollte und hart genug dafür arbeitete“, auf Lutie ab. Doch das System ist für Schwarze ein Teufelskreis, wie sie später feststellt: „Die Frauen arbeiten, weil die Weißen ihnen Arbeit geben – Geschirr spülen, Wäsche waschen, Böden wischen, Fenster putzen. Die Frauen arbeiten, weil die Weißen schwarzen Männern noch nie gern Arbeit gegeben haben, die genug ab wirft, um eine Familie zu ernähren.“ Die gedemütigten Männer, zu Hause in „finsteren Bruchbuden, wo einen die Wände erdrücken“, ziehen weiter. So auch Jim, der Bestätigung in den Armen einer anderen Frau sucht. Lutie setzt ihn vor die Tür und zieht mit Bubb in eine schäbige Dachwohnung in der 116ten Straße in Harlem. Die Straße ist der American Nightmare, ein Höllenloch mit einem Teufelskreis aus Rassismus, Sexismus und Armut – es kommt zu verschiedenen Verwicklungen, bis zum finalen Knall.
Kraftvolle Sprache und Thrill
„The Street“ ist ein Roman noir und ein literarisches Ereignis. Petry ist eine begnadete Erzählerin, die virtuos zwischen den Stilmitteln der Hoch und Trivialkultur hin und her springt, mit kraftvoller Sprache und Thrill. Dabei greift sie Stereotypen aus dem gängigen Kriminalroman auf, um sie anschließend gründlich zu unterlaufen, indem sie ihnen psychologische Tiefe und somit Ambivalenz verleiht. In ebendieser Ambivalenz liegt auch die Empathie, für die Petry zu Recht gerühmt wird, die sie noch für die widerlichsten Figuren aufbringt.
Sie alle sind „zwielichtige Gestalten, denen der Horror ihrer Lebensverhältnisse anzusehen“ ist. Zum Beispiel der Musiker Boots, der Lutie anbietet, in seiner Band zu singen – letztlich aber nur mit ihr ins Bett will. Ohne Sympathie für seine Abtrünnigkeit zu haben, entwickelt Petry ein Verständnis für sein Gewordensein, wenn er schildert, wie es ist, „wo zu leben, wo dich keiner haben will und wo der letzte weiße Arsch keine Mühe scheut, dich genau das wissen zu lassen“.
Petry schreibt mit analytischer Klarheit über Männer, die „nur in einem seltsam überempfindlichen Stolz“ Halt finden und gewalttätig werden. Woraus Weiße wiederum ihre Bestätigung ziehen, dass Schwarze „von Natur aus kriminell“ seien. Wer so denkt, sagt Lutie, der „sah den ein zelnen Schwarzen ja gar nicht (…) weil ein Schwarzer für ihn kein Individuum war. Der war eine Bedrohung, ein Tier, ein Fluch, eine Plage oder ein Witz.“
In Stefan Zweigs „Brief einer Unbekannten“ heißt es, als der Protagonist besagten Brief zu Ende gelesen hat: „Ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum.“ Eine ähnlich kalte Zugluft ist auch „The Street“.
Ann Petry: „The Street – Die Straße“, Nagel & Kimche, 384 Seiten, 24 Euro. Am 30.6. wird das Buch bei „März & Moritz & Gast“ im Literaturhaus besprochen, 19.30 Uhr
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Juli 2020. Das Magazin ist seit dem 27. Juni 2020 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!