„Wo ist denn die Wohnung, in die die Menschen ziehen sollen?“

Der Sozialverband Deutschland setzt sich als Lobbyist für eine bessere Sozialpolitik ein. Was Armut verursacht, die soziale Spaltung vergrößert und was sich ändern muss, erzählt Klaus Wicher, Landesvorsitzender Hamburg und Mitglied im Bundesvorstand
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Am Elbufer, hier befinden sich Hamburgs wohlhabendste Stadtteile (Foto: Erik Brandt-Höge)

SZENE HAMBURG: Herr Wicher, wen trifft Armut?

Klaus Wicher: Armutsgefährdet, wie es heißt, ist man, wenn 60 Prozent eines mittleren Einkommens nicht erreicht werden. Das sind ungefähr 340.000 Menschen in der Stadt. Die Anzahl steigt seit dem Jahre 2005 kontinuierlich und steil an. Dann gibt es rund 190.000 Hartz-IV-Empfänger. Hier sind auch Studenten erfasst, die aktuell kein Geld verdienen können, aber durch eine gute Bildung die Chance haben, aus der Armut wieder rauszukommen. Zudem können rund 47.000 Rentnerinnen und Rentner nicht von ihrer Rente beziehungsweise Erwerbminderungsrente leben und haben eine Grundsicherung beantragt.

Wir haben festgestellt, dass etwa 39 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in sogenannten atypischen Beschäftigungen tätig sind. Atypisch ist zum Beispiel Zeitarbeit bei Frauen, die auch oft in Teilzeit arbeiten. Selbst wenn sie einen hohen Stundenlohn erhalten, aber nur die Hälfte der Arbeitszeit tätig sind, werden sie nie eine ausreichende Rente erzielen. Aktuell erhalten in Hamburg nur 4,3 Prozent eine Rente von 2000 Euro oder mehr. Und viele Hamburger arbeitet in 450 Euro-Jobs. All das ergibt eine relativ hohe Armutsquote. Wir gehen davon aus, dass es etwa 500.000 Menschen in Hamburg, vorsichtig ausgedrückt, nicht gut geht. Das ist für so eine reiche Stadt wie Hamburg ein Armutszeugnis, denn Hamburg gehört zu den reichsten Metropolen Europas.

„Von Armut betroffene Menschen infizieren sich häufiger mit Corona“

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In Hamburg fehlt die Durchmischung, sagt der Sozialverband Deutschland (Foto: Erik Brandt-Höge)

Die sogenannte soziale Spaltung.

Eine grobe Schätzung besagt, dass es in Hamburg etwa 42.000 Vermögensmillionäre gibt. Natürlich kann man sagen, wenn einer eine Million hat, so richtig reich ist er nicht. Aber wenn man auf sein eigenes Konto guckt, ist das schon ein beachtlicher Betrag, der einen ruhig schlafen lässt. Und es gibt einige Tausende, deren Einkommen die Million im Jahr überschreitet. Hier zeigt sich das extreme Auseinanderdriften der Gesellschaft, das sich auch in den Stadtteilen widerspiegelt.

Von Nienstedten bis Veddel …

Nienstedten ist der reichste Stadtteil in Hamburg. Dort liegt das Durchschnittseinkommen pro Jahr bei etwa 150.000 Euro. Einer der ärmsten Stadtteile ist Veddel mit einem Durchschnittseinkommen von etwa 17.000 Euro. Im Hamburger Westen sind Rissen, Blankenese, Klein Flottbek und Ottensen reiche Stadtteile. Im Norden Volksdorf und Wohldorf-Ohlstedt. Besonders von Armut betroffene Bereiche sind Hamburg-Mitte und Harburg. Hier haben sich aufgrund der Armut, die Menschen auch besonders stark mit Corona infiziert. Sie haben weniger Möglichkeiten, sich zu schützen.

„Es braucht eine Durchmischung“

Das sind die Extreme, aber wie bewerten Sie die Durchmischung der Stadtteile?

In den Sechzigerund Siebzigerjahren gab es einen Bauboom, in dem sehr uniform gebaut wurde. In dieser Zeit sind Hochhaussiedlungen mit ausschließlich Sozialwohnungen entstanden. Der gute Wille war zwar da, aber, dadurch, dass alle auf einem Fleck gebaut wurden, haben sich ProblemStadtteile entwickelt. Dort wohnen überwiegend Menschen mit kleinen Einkommen und dadurch ist auch keine Kaufkraft vorhanden. Das Einkaufszentrum in Steilshoop zum Beispiel ist völlig heruntergekommen. Wie sollen da die Händler zurechtkommen? Es braucht eine Durchmischung von Eigentumswohnungen, normalen Mietwohnungen und Sozialwohnungen. Wobei mindestens 5000 Sozialwohnungen pro Jahr gebaut werden müssen, damit der Wohnungsbestand im sozialen Bereich überhaupt mal steigt. Das aktuelle ein Drittel ist zu gering.

Mieten sind ein Thema, das uns Hamburger seit Langem umtreibt.

Die Mieten sind ein weiterer Aspekt, warum es in Hamburg höhere Armut gibt. Ein großer Anteil der Bewohner muss 30, 40, 50 Prozent und mehr seines Einkommens für Mieten ausgeben. Je kleiner das Einkommen, umso größer ist der Anteil für die Miete. Für die, die Hartz IV oder eine Grundsicherung erhalten, wird eine angemessene Miete vom Staat bezahlt. Aber auch hier gibt es Quadratmeter-Höchstzahlen und nur wer diese einhält, wird voll gefördert. Wenn jemand eine größere Wohnung hat, wird der Antragsteller aufgefordert, umzuziehen. Dann kommen die Betroffenen oft zu uns in die soziale Rechtsberatung. Wenn wir Widerspruch einlegen, wird die Aufforderung meist zurückgezogen, denn wir fragen immer: Wo ist denn die Wohnung, in die die Menschen ziehen sollen? Die gibt es ja gar nicht.

Ein anderer Aspekt ist die Preissteigerung der Energiekosten, der man nicht ausweichen kann. Menschen, die wenig haben, können es sich nicht leisten, wenn der Gaspreis plötzlich um 100 Prozent erhöht wird. Das macht sich aktuell bemerkbar, denn die Tafeln, die kostenfrei Essen und Lebensmittel anbieten, haben Hochkonjunktur. Auch in dem Sozialkaufhaus, das wir in Osdorfer Born betreiben, merkt man zunehmende Armut und ein höheres Aufkommen der Menschen.

Solidarität

Sollten in unserer sozialen Gesellschaft reiche Menschen mehr zur Verantwortung gezogen werden?

Mit unserer neuen Bundesregierung ist die Diskussion der Umverteilung noch einmal hochgekommen beziehungsweise wurde gedeckelt. Eine Steuerpolitik, die diejenigen, die mehr Geld haben, etwas stärker belastet, kommt ja nicht zustande. Das wäre aber notwendig. Wir fordern natürlich eine starke Umverteilung und eine Veränderung der Steuerpolitik ist der Weg, der eingeschlagen werden muss. Es muss eine Vermögenssteuer eingeführt werden. Der Spitzensteuersatz, die sogenannte Reichensteuer, muss erhöht werden. Es werden unglaublich hohe Erbschaften weitergegeben, auf die nur so ein paar kleine Steuern fällig werden. Wenn all das geändert werden würde, könnte man locker im Jahr 50 Milliarden oder je nachdem wie hoch die Veränderungen wären, auch 100 Milliarden einnehmen. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die sagen, dass dies ihnen persönlich schadet.

Dagegen behaupten wir, wenn jemand mit beispielsweise einem Jahreseinkommen von 250.000 Euro zwei, drei Prozent mehr Steuern zahlen muss, bemerkt er das in dieser Größenordnung gar nicht. Wir haben in Deutschland einen unglaublichen Reichtum von 7,3 Billionen Privatvermögen. Und das ist in der Pandemie noch einmal gestiegen. Während die Anzahl derjenigen am unteren Ende, die nichts haben oder sogar Schulden, deutlich ansteigt. Das heißt, die Schere, die wir bereits oben erwähnt haben, geht in der Gesamtgesellschaft auseinander. Und das beobachten wir auch in Hamburg. Deshalb ist die Solidarität der Gesellschaft eine Grundforderung, damit es denjenigen, den es nicht so gut geht, ein bisschen besser geht.

Existenzängste

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Klaus Wicher hat 2019 das Buch „Lebenswertes Hamburg. Eine attraktive und soziale Stadt für alle?“ herausgegeben (Foto: Henning Scheffen)

Gibt es eigentlich noch die sogenannte Mittelschicht?

Ja, die gibt es noch. Aber auch hier wird ein sehr starker Abstieg verzeichnet und sie wird dünner. Früher hieß es, dass es aus der Mittelschicht allenfalls nach oben geht. So ist das heute nicht mehr. Das hat die Pandemie noch mal deutlich gezeigt. Solo-Selbstständige und Kleingewerbetreibende, die zum Teil eine gute Perspektive hatten und zurechtgekommen sind, mussten schließen. Und plötzlich waren sie arbeitslos und da sie meistens nicht in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, bekamen sie direkt Hartz IV. Das geschieht aber auch in normalen Zeiten. Und es gibt nicht mehr die Sicherheit: Ich bin im Mittelstand mit gutem Verdienst, baue ein Häuschen und wenn ich alt bin, dann lebe ich in dem Häuschen. Das ist leider so nicht mehr und erzeugt Existenzängste.

Mit was für Anliegen oder Sorgen kommen die Menschen zum Sozialverband Hamburg?

Das ist sehr unterschiedlich. Wir machen ja soziale Rechtsberatung, also keine Sozialberatung im eigentlichen Sinne. Acht Juristinnen und Juristen beraten und prüfen, ob die Fälle, die an uns herangetragen werden, rechtens sind und ob etwas dagegen unternommen werden kann. Zum Beispiel, wenn die Krankenkasse Anträge ablehnt oder die Erwerbsminderungsrente zu niedrig ist. Aber auch wenn der Grad einer Behinderung nicht richtig eingeordnet wurde und die Person dadurch Nachteile hat. Dann legen wir Widerspruch ein und notfalls klagen wir auch vor dem Sozialgericht. Es geht um Sozialrecht und um Leistungen, die einem zustehen. Wir können nicht immer etwas tun, manchmal sind auch uns die Hände gebunden, weil die Gesetze einfach nicht gut sind.

Viele Probleme, wenig Kommunikation

Außerdem betreibt der Sozialverband klassische Lobbyarbeit, oder?

Genau. Bundesweit haben wir ungefähr 620.000 Mitglieder und in Hamburg, der größte Stadtverband im Verbund, etwa 24.000. Wir gehen auf die Politik zu, äußern unsere Bedenken und machen Vorschläge. Auf Bundesebene kümmern wir uns, und das betrifft nicht nur die Abgehängten in der Gesellschaft, um das Rentensystem, Krankensystem, Pflegesystem, Arbeitslosensystem und das System der behinderten Menschen. Das sind die fünf großen Bereiche der klassischen Sozialversicherung. Zum Beispiel hat die neue Bundesregierung ein anderes Rentensystem vor Augen, sie wollen ja sozusagen die Rente mit Aktien stützen (lacht). Zu genau diesem Punkt nehmen wir Stellung, um den Menschen am Schluss eine vernünftige Rente präsentieren zu können. In Hamburg ist es unter anderem das Thema Pflege-Aufsicht, um das wir uns kümmern. Pflegeheime müssen, gesetzlich vorgeschrieben, kontrolliert werden. Das wurde eine Zeit lang sehr vernachlässigt und die Frage ist, wie baut man das nach der Pandemie wieder auf?

Wie läuft die Zusammenarbeit mit Hamburgs Politikern?

Wenigstens einmal im Jahr setze ich mich mit den Parteispitzen der Bürgerschaft für ein Orientierungsgespräch zusammen und weise sie auf das hin, was im Argen liegt und präsentiere unsere Vorschläge, damit es weitergeht. Wir sprechen mit allen Parteien außer mit der AfD, das hat keinen Sinn, denn sie hat nichts zu bieten. Dann spreche ich natürlich auch hin und wieder mit unserer Sozialsenatorin Frau Dr. Leonhard und den Staatsräten wie Herrn Schulz aus der Schulbehörde. Und wir tauschen uns aus mit den Fachsprechern aus. Zum Beispiel haben wir der Fachsprecherin für öffentlich geförderte Beschäftigung, zu der Frage, wie man aus Hartz IV rauskommt, einen Vorschlag unterbreitet, den sie gut fand. Da bleiben wir dann dran.

Ein anderes Beispiel: Bei der Grundsicherung im Alter gibt es die Möglichkeit, dass die Stadt diese aus eigenen Mitteln aufstockt. München macht das bereits seit sieben Jahren und stockt mit 21 Euro im Monat auf. Das scheint nicht viel, aber Menschen, die nichts haben, leben eine Woche davon. Die Stadt Hamburg macht das nicht. Und dazu sind wir jetzt in einer schärferen Auseinandersetzung mit Frau Dr. Leonhard.

„Wir sehen eine Bedrohung unserer Gesellschaft“

Armut macht mit dem Menschen ja was. Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft aus?

Das Hauptproblem, das wir sehen, ist eine Bedrohung unserer Gesellschaft. Das sind nicht nur Menschen, die, was ich auch verstehe, Angst vor der Impfung haben. Sondern, und das wird jetzt sehr sichtbar, Menschen, die unsere Gesellschaft gar nicht wollen. Natürlich haben auch wir Kritik an unserem Wirtschaftssystem. Aber grundsätzlich finden wir die Gesellschaft in Ordnung. Doch die wollen raus aus der Gesellschaft. Das sind nicht alles Faschisten, aber auch. Das heißt, die wollen eine Diktatur errichten. Oder die Reichsbürger würden gerne wieder einen Kaiser haben.

Und dann gibt es Menschen, die sind enttäuscht von dieser Gesellschaft. Die in der Pandemie so gelitten haben und nun das Gefühl haben, dass jetzt auch mal was zurückkommen muss. Deshalb haben wir dazu aufgefordert, dass die Stadt den Menschen mit Grundsicherung und Hartz-IV-Empfängern jeweils 80 Euro im Monat geben soll, solang die Pandemie andauert. Darauf erfolgte keine Reaktion. Unsere Sorge ist, dass sich die Menschen immer weiter von dieser Gesellschaft entfernen.

Die sozialpolitischen Leitlinien und mehr finden sich beim Sozialverband Deutschland


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