Im stillgelegten Paternoster und über alle Etagen des Kontorhauses hinweg hat Kurator Sven Christian Schuch die Ausstellungsreihe „Mind the Gap“ initiiert – mit so großartigen Künstlern wie Cordula Ditz, Annika Kahrs oder Simon Hehemann. Wir sprachen mit ihm über die Geschichte des Bieberhauses, den Umgang mit Erinnerung und was Kunst alles kann
Interview: Sabine Danek
SZENE HAMBURG: Sven, wie bist du auf das Bieberhaus gekommen?
Sven Christian Schuch: Die Idee war, ungewöhnliche Orte für Kunst nutzbar zu machen. Dabei ging es gar nicht konkret um das Bieberhaus, sondern generell darum, Ausstellungen nicht im White Cube, sondern im Alltag selbst stattfinden zu lassen. Irgendwann hat mir jemand von dem Paternoster im Bieberhaus erzählt. Das fand ich sehr spannend. Auch, weil der Paternoster, der nach der Sanierung des Bieberhauses stillgelegt wurde, quasi die Wirbelsäule des Hauses war und die Zirkulation in die oberen Etagen ermöglicht hat. Mit den Ausstellungen wollen wir ihm seine Dynamik wiedergeben.
Geht es in den Ausstellungen auch um das Bieberhaus selbst?
Ja, und das auf ganz unterschiedliche Weise. In der aktuellen Ausstellung beschäftigt Cordula Ditz sich mit der Historie des Hauses. Alexandra Hojenski hingegen wird sich mit dem Paternoster selbst beschäftigen, mit der Angst, oben oder unten durchzufahren, auf dem Kopf zu stehen oder rauszufallen. Christl Mudrak wird schauen inwiefern das jetzige Bieberhaus ein Modell für die Zukunft ist. Denn es steht auch für verschiedene Formen der Arbeit. War es bis zum Zweiten Weltkrieg ein Kontorhaus, das Arbeit und Leben trennen sollte, wurde es später von der Stadt selbst als Verwaltungsgebäude mit Finanzamt, Sozial- und Ausländerbehörde genutzt. In den 2000ern dann wurde es privatisiert und saniert und jetzt gibt es hier auch Co-Working-Spaces, den Rowohlt Verlag und Kreativagenturen.
Wie geht Cordula Ditz in ihrer Ausstellung jetzt mit der Geschichte des Bieberhauses um?
Cordula Ditz, die für ihre Arbeiten ja immer sehr viel recherchiert und Material anhäuft, geht bis zu den Anfängen des Bieberhauses 1909 zurück. Es war zum Platz geöffnet, große Palmen standen im Foyer und es beherbergte das Bieber-Café, das ein beliebter Treffpunkt war. Fasziniert von der Modernität, schaute man von dort aus auf die Gleise des Hauptbahnhofs, der 1906 eröffnet wurde. Vor allem aber hat sie die Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs interessiert und speziell die Geschichte von Helmuth Hübner. Der 16-Jährige, der Verwaltungsschüler in der Sozialbehörde hier im Bieberhaus war, hörte heimlich die BBC und verfasste Flugblätter gegen die Nazis, die er mit seinen Freunden in den Arbeitervierteln Hammerbrook und Rothenburgsort verteilte. Es waren tolle, geistreiche Flugblätter, ungefähr 60 an der Zahl. Am 5. Februar 1942 sind er und seine Freunde aufgeflogen, Hübner wurde hier im Bieberhaus festgenommen und am 27. Oktober 1942 wurde er im Gefängnis in Plötzensee guillotiniert. Cordula Ditz hat viel im Archiv der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, recherchiert und sogar herausgefunden, in welchem Zimmer er wohl saß. Wir haben dessen Fenster mit LED-Streifen markiert, sodass es nachts leuchtet und auch von außen sichtbar ist.
Sind alle Arbeiten direkt für das Bieberhaus entstanden?
Ja, alle von ihnen sind neu und werden sich auf unterschiedliche Weise auf das Haus einlassen. Annika Kahrs wird die sieben Etagen mit akustischen Familienporträts bespielen. Dafür arbeitet sie mit Derya Yildrim zusammen, einer Hamburger Musikerin mit türkischen Wurzeln. Die Arbeit bezieht sich auch darauf, dass die Ausländerbehörde lange im Bieberhaus untergebracht war. Aber das muss man gar nicht wissen, denn das Wichtigste sind die Arbeiten selbst.
Die Ausstellung beschäftigt sich mit Geschichte, mit Erinnerung und dem Umgang damit. Und das in der Nähe der großen Wunde, die die City-Höfe hinterließen.
Die City-Höfe sind natürlich das Paradebeispiel dafür, wie man mit seinem Erbe nicht umgehen sollte. Jedes Haus hat eine Geschichte, und aus einem Bewusstsein dafür kann viel entstehen.
Spielt der Titel „Mind the Gap“ auf die Nähe zum Hauptbahnhof an?
Ja, denn diese Aufforderung kennt man natürlich aus Zügen. Gleichzeitig bezieht der Titel sich aber auch auf das Viertel, das zwischen Extremen changiert und vor allem auf den Paternoster selbst – und auf das Potenzial, das in solchen Lücken steckt.
MIND the GAP, Bieberhaus
bis 4.7.2021
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