Awareness: Kampf den Übergriffen

Grenzüberschreitungen und Diskriminierungen sind auch auf Musikveranstaltungen ein alltägliches Geschehen. Um Betroffenen Hilfe zu leisten, aufzuklären und Clubs oder Festivals wie das MS Dockville zu sichereren Orten zu machen, braucht es Initiativen wie Act Aware. Mitbegründerin Sarah Bergmann berichtet über ihre Arbeit und wie alle bei übergriffigem Verhalten Verantwortung übernehmen können
Awareness steht beim Dockville in Hamburg ganz oben (©Karina Kortlüke)

SZENE HAMBURG: Sarah, immer mehr Veranstaltungen setzen auf Awareness-Teams. Ist das Bewusstsein für die Thematik größer geworden oder die Notwendigkeit?

Sarah Bergmannn: Ich glaube, das eine bedingt das andere unmittelbar. Dadurch, dass sich mehr Betroffene trauen, Vorfälle öffentlich zu machen, bekommen wir einen realistischen Eindruck, was wirklich auf Veranstaltungen passiert. Auch das ist nur ein Bruchteil, viel geschieht im Verborgenen. Ich finde es nicht nur notwendig, sondern essenziell, dass alle Menschen ihr Bewusstsein für Diskriminierungen schärfen – wenn ich ein Festival veranstalte, habe ich auch die Verantwortung, einen Ort so sicher wie möglich zu gestalten.

Was ist Act Aware?

Ein Zusammenschluss aus vielen Akteur:innen, die Veranstaltungen dabei unterstützen, Awareness-Konzepte zu etablieren – in der Theorie und Praxis. Wir geben Workshops und Schulungen zu Antidiskriminierung, entwickeln Maßnahmen für ein besseres Miteinander am Arbeitsplatz und auf Events und unterstützen mit Awareness-Teams. Gegründet haben wir den Verein, um gesamtgesellschaftlich Veränderung anzustoßen und nicht nur Missstände anzusprechen, sondern sie mit konkreten Strategien zu bekämpfen.

Die betroffene Person bestimmt selbst, wie sie eine Situation empfindet und bewertet

Sarah Bergmann von Act Aware

Was bedeutet Awareness auf Veranstaltungen genau?

Übersetzt wird Awareness oft mit „Aufmerksamkeit“, für unseren Veranstaltungskontext bedeutet es noch mehr: hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen, wenn Überforderung, Gewalt oder Diskriminierung passiert. Es bedeutet, dass alle gemeinsam – also Crew, Veranstaltende, Bands und Publikum – ein rücksichtsvolles Miteinander herstellen, in dem sich jede Person wohl und sicher fühlen kann. Das geht, indem wir grenzüberschreitende Situationen von vornherein verhindern und Unterstützungsstrukturen herstellen, falls sie doch passieren.

Woher kommt dein Know-how?

Es ist ein Mix aus Erfahrungen und Lernen, durch die ich sowohl das Veranstaltungs- als auch Fachwissen für unsere Arbeit anwenden kann. Ich habe zwölf Jahre in der Musikbranche gearbeitet und Konzerte und Festivals organisiert. Mein Fokus lag schon damals auf der Kommunikation mit Crew und Besucher:innen. Vertieft habe ich mein Know-how vor allem mit Schulungen, Literatur und meiner New Work Coach-Ausbildung. Im Verein kommt viel Expertise zusammen, aus den Sozial- oder Genderwissenschaften, dem Social Justice-Training und auch den eigenen Betroffenheiten. Als queere Frau bringe ich zum Beispiel eine höhere Sensibilität für Sexismus und Queerfeindlichkeit mit.

Awareness beim MS Dockville: Interaction- und Awareness-Team

Das Awareness-Team wird beim Dockville ganz klar erkennbar sein (©Karina Kortlüke)

Wie kam die Zusammenarbeit mit dem MS Dockville zustande?

Meine Kollegin Teresa Hähn unterstützt das Dockville schon seit Jahren in vielen Bereichen. Angefragt wurden wir durch die Crew im letzten Jahr, da wir ein geschultes Awareness-Team aufgebaut haben. So haben wir gemeinsam das Awareness-Konzept neu auf das Festival angepasst und können in diesem Jahr drauf aufbauen. Eine lange Vorbereitungsphase und enge Zusammenarbeit, in der Awareness nicht als Dienstleistung verstanden wird, ermöglicht, dass ein Konzept nicht aufgestülpt, sondern von innen heraus von allen getragen werden kann.

Wie sieht Awareness Arbeit dort konkret aus?

Die Awareness-Arbeit auf dem Dockville wird auf zwei Arten sichtbar: durch das Interaction-Team und durch das Awareness-Team. Das Interaction-Team ist – wie der Name vermuten lässt – für Interaktionen mit den Besucher:innen zuständig und geht hier spielerisch in den Austausch zu komplexen Themen. Das Ziel ist ein besseres Verständnis für das Miteinander zu schaffen, welches das Dockville anstrebt. Neben dieser Präventionsarbeit ist das Awareness-Team für die Unterstützungsarbeit zuständig. Wenn sich eine Person nicht wohl oder sicher fühlt, hat sie die Möglichkeit, direkt zum Awareness Space zu kommen oder das Awareness-Team anzurufen.

Wie helft ihr dann?

Unterstützung kann ganz unterschiedlich aussehen und orientiert sich vor allem daran, was die betroffene Person gerade braucht. Das kann ein Rückzugsort, ein Gespräch oder auch Hilfe zur Körperregulation mit Stressbällen sein. Wir haben ein geschultes Team mit psychosozialen Berufshintergründen, die ausgebildet sind, bei Panikattacken, Überforderung, sexualisierter Gewalt oder drogeninduzierten Problemen zu helfen. Wie eine Person eine Grenzüberschreitung empfindet, ist ganz individuell. Ein Prinzip unserer Arbeit ist die Definitionsmacht. Das bedeutet, die betroffene Person bestimmt selbst, wie sie eine Situation empfindet und bewertet. Indem wir dies nicht in Frage stellen, helfen wir dabei, dass sie ihre Selbstwirksamkeit zurückgewinnt. Das Ziel ist es, dass die Person den Club oder das Festival nicht verlassen muss, sondern bleiben kann, weil sie sich besser fühlt.

Die eigenen Privilegien reflektieren

Wieso übernimmt die Security diesen Job nicht?

Im Gegensatz zur Security arbeitet das Awareness-Team betroffenenzentriert. Das bedeutet, es ist solidarisch mit den Personen, die eine Grenzüberschreitung erfahren haben und unterstützt sie in ihren Bedürfnissen. Die Security legt den Fokus auf die gewaltausübenden Personen und schaut, wie mit Täter:innen umgegangen werden kann. Eine Zusammenarbeit und Abstimmung ist hier natürlich trotzdem essenziell.

Sexualisierte Gewalt macht nicht vor einem bestimmten Musikgenre Halt

Sarah Bergmann von Act Aware

Können sich betroffene Personen noch nach der Veranstaltung bei euch melden?

Es gibt die Möglichkeit, auch danach eine E-Mail zu schreiben, um Feedback zu geben – das Awareness-Konzept soll auch von Besucher:innen mitgestaltet werden dürfen. Vorfälle oder Beobachtungen, denen man sich im Nachhinein erst bewusst wird, können hier auch mitgeteilt werden. Während des Festivals liegen zusätzlich Infos zu Beratungs- und weiteren Anlaufstellen aus. An diese kann man sich auch noch später und zur Nachsorge wenden.

Welche Möglichkeiten gibt es grundsätzlich, sich außerhalb von Veranstaltungen mit dem Thema zu beschäftigen?

Da gibt es einige. Anfangen würde ich da bei mir selbst und reflektieren, welche Privilegien ich eigentlich habe und wie ich Personen unterstützen kann, die benachteiligt sind. Ich kann Menschen zuhören, ihnen auf Social Media folgen, Bücher lesen oder Podcasts hören, um mich mit Themen wie Sexismus, Rassismus und anderen Diskriminierungsformen zu beschäftigen. Das eigene Handeln zu hinterfragen und auch die eigene Entscheidungsposition zu nutzen, um Macht abzugeben und Umstände zu verbessern, ist viel wert. Es gibt zahlreiche, auch kostenlose Workshops, in denen man sich austauschen kann. Eine Sache, die immer gelten sollte, ist Konsens: also sich eine Zustimmung einholen und fragen, ob etwas okay ist. Und das ist auf alle Lebensbereiche anwendbar.

Die Konzepte verändern sich ständig und werden weiterentwickelt

Sarah Bergmann ist Mitbegründerin der Initiative Act Aware (©Godje Loof)

Wo seid ihr sonst in Hamburg aktiv?

Auf den anderen Festivals von Kopf & Steine: neben dem Dockville also auch Habitat, Vogelball und Spektrum. Wir arbeiten auch mit dem Reeperbahn Festival und den teilnehmenden Clubs zusammen. Neben diesen größeren Events haben wir aber auch vor kurzer Zeit einen Workshop auf der Meet (ein Kongress der Veranstaltungswirtschaft, Anm. D. Red.) gegeben, um mit der nächsten Generation der Veranstaltungsbranche in Kontakt zu kommen. Kürzlich startete außerdem unser neues Projekt „tba – to be aware“ in Hamburg: Gemeinsam mit dem Clubkombinat schulen wir zehn Clubs und entwickeln mit ihnen ein Awareness-Konzept.

Unterscheiden sich die Fälle von Diskriminierungen nach Art der Veranstaltung?

Aus der Erfahrung heraus können sich hier schon gewisse Trends ablesen, was die Häufigkeit bestimmter Diskriminierungsformen angeht. Diese Schwerpunkte berücksichtigen wir bei unserer Planung. Jedoch können auf allen Veranstaltungen alle Formen von Grenzüberschreitungen stattfinden – sexualisierte Gewalt macht nicht vor einem bestimmten Musikgenre Halt. Ab diesem Jahr widmen wir uns auch noch intensiver der Auswertung von Übergriffen, um auch unsere Arbeit weiterzuentwickeln.

Unterscheidet sich Awareness-Arbeit auf einem Festival zu der im Club?

Generell kann ein Awareness-Konzept nicht als Schablone gedacht werden, sondern sollte immer auf die jeweilige Veranstaltung angepasst sein. Da sich ein Festival allein vom Aufbau, der Fläche und der Publikumsgröße unterscheidet, gilt es auch das zu berücksichtigen. Auf Festivals gibt es die Herausforderung, dass auch Campingplätze mit abgedeckt werden müssen oder die Crew so groß ist, dass es schwierig ist, alle vorab zu briefen. Wir arbeiten hier viel mit mobilen Teams, die dann auf dem gesamten Gelände unterwegs sind.

Das Ziel? Gemeinsame Verantwortungsübernahme

Welche (kultur-)politischen Entscheidungen wären notwendig, damit ihr bessere Arbeit leisten könnt?

Die aktuellen Ereignisse zeigen uns, dass politischer Druck schon dazu führen kann, dass Veranstaltungen Awareness-Maßnahmen in Betracht ziehen. Dies passiert leider oft als Reaktion – wichtig wäre es, dies zur Auflage jedes Sicherheitskonzeptes zu machen. Bedenklich finde ich, dass ein Awareness-Team als kurzfristiges Pflaster herhalten soll, damit Konzerte trotzdem stattfinden können, obwohl durch gewalttätige Künstler keine sichere Show gewährleistet werden kann.

Was können Veranstaltende und Gäste tun, damit eure Arbeit überflüssig wird?

Wenn jeder Mensch sich und das eigene Verhalten fortwährend reflektiert, damit wir voneinander lernen und verlernen können, dann sehe ich einen gemeinsamen Prozess in Richtung: gemeinsame Verantwortungsübernahme. Wenn wir alle zusammen dafür sorgen, dass unsere eigenen und die Grenzen anderer berücksichtig werden, würden wir dieses bessere Miteinander tatsächlich von der Theorie in die Praxis bringen.

Dieser Artikel ist in einer ersten Version in der SZENE HAMBURG 08/2023 erschienen.

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