Eine Freitagnacht auf Kampnagel. Aus einer der Hallen wummern Beats. Im schummrigen blau-lila Scheinwerferlicht sind etwa 25 Personen auf einer Bühne zu erkennen. Einige stehen, andere sitzen, sie tragen hautenge Kleider im Metallic-Look, bauchfreie Bandeau-Tops in Neonfarbe, hohe Lackstiefel oder ganz casual Sneaker und ein schlichtes weißes, langärmeliges Kleid.
Vorne läuft eine große, schlanke Frau mit weißen Pelzstulpen und schwarzem Minirock selbstbewusst von rechts nach links über die Bühne – wie auf einem Laufsteg. Vor einem Tisch, an dem drei Menschen sitzen, stemmt sie die Hände in die Hüften und dreht sich elegant um die eigene Achse, die Jacke in Zebraoptik rutscht lässig herunter und gibt den Blick auf ihre Schultern frei. „Rrrrr … show me the magic, let’s go, bitch“, shoutet die MC ins Mikrofon. Die junge Frau mit dunklen Locken, Baseballcap und Netzärmeln treibt die Performance zusammen mit den Zuschauenden an, die jubeln, klatschen und schnipsen. Die Personen am Tisch sind beeindruckt und zeigen zehn Punkte mit ihren Fingern. Ava Angels 007 ist weiter – willkommen beim Ballroom.
Nicht nur ein Tanz
Die dreiköpfige Jury bestimmt bei dieser Vogue Night, einem Event der Hamburger Ballroom Community, insgesamt in fünf Kategorien, wer einen Grand Prize, in diesem Fall eine abstrakt aussehende Lampe, und den Fame mit nach Hause nehmen darf. Denn darum geht es bei einem Ball unter dem Aspekt des Wettbewerbs: Die Teilnehmenden messen sich in verschiedenen Disziplinen, die sich nicht nur um Tanz drehen. Wie in der Category „Face“, bei der es darum geht, die Jury mit dem Gesicht, besonderen Gesichtszügen, sauberer Haut, schönen Zähnen, einem intensiven Blick und der entsprechenden Präsentation des Ganzen, zu überzeugen. Die wohl bekannteste Category ist „Performance“. Hier kommt der Tanzstil Vogue zum Einsatz, der sich in die Formen Old Way, New Way und Vogue Fem unterteilt. Das expressive Voguing hat seinen Namen daher, weil die Bewegungen unter anderem von den Posen der Models auf den Covern der „Vogue“ inspiriert wurden. Kombiniert werden diese mit Spins, kunstvollen 360-Grad-Drehungen des Körpers, und Dips, oft eingesetzt für den mehr oder weniger theatralischen Abschluss, bei dem sich die Tanzenden gekonnt auf den Boden fallen lassen, ein Bein angewinkelt, eines in die Luft gestreckt.
Die Ursprünge von Ballroom
Ballroom ist allerdings viel mehr als das Voguing, das mittlerweile auch Tanzstudios in der Provinz anbieten, und die Competition beim Ball. Dahinter steckt eine ganze Subkultur mit eigenem Vokabular und eigenen Gesten. Und vor allem: einer eigenen Geschichte, die von Unterdrückung, Rassismus und Außenseitertum geprägt ist. Aus dieser Diskriminierung resultiert die Entstehung als politisch-emanzipatorischer Akt der Befreiung. Auch wenn die Ursprünge noch weiter zurückliegen, hat die eigentliche Ballroom Culture ihre Anfänge im New York der frühen 1970er-Jahre. Zu dieser Zeit konnten viele Schwarze und People of Color (POC), die der LGBTIQ+-Community angehörten, sowohl ihre Sexualität als auch ihr Geschlecht und ihre Identität nicht offen ausleben. In ihrer biologischen Familie fanden sie ebenfalls keine Akzeptanz, wurden im schlimmsten Fall sogar verstoßen. Und so kamen sie in Ballrooms zu Wahlfamilien, den sogenannten Houses, zusammen. Ein Safe Space, wo sie so sein konnten, wie sie wirklich waren.
Wer diese historischen Hintergründe, Ursprünge und die Funktion von Ballroom nicht kennt und reflektiert, hat die Subkultur nicht verstanden, meinen Sahra Maria Abassi aka Zaniah Marciano Revlon, Evelyn Lima aka Ava Angels 007 und Gifty Lartey aka Gifty Angels Gorgeous Gucci. „Noguing“ nennen das die drei, die seit vielen Jahren Teil der Community in Hamburg sind.
„Es ist sehr politisch“
Sahra Maria Abassi aka Zaniah Marciano Revlon
Zaniah Marciano Revlon hat sich mit ihren 22 Jahren schon fest in der Szene etabliert. Bei der Vogue Night auf Kampnagel ist sie Commentator und MC. Auch Ava Angels 007 ist bei dem Event dabei, die 26-Jährige hat in der Category „Runway“ gewonnen. Gifty Gorgeous Gucci Angels hingegen konnte diesmal nicht teilnehmen. Die Ballroom-„Nachnamen“ der Frauen setzen sich aus den Zugehörigkeiten zu ihren Houses zusammen. Man darf jeweils in einem Major House und in einem Kiki House Mitglied sein. Wer keinem House angehört, trägt stattdessen eine „007“ im Namen. Während in der Main-Szene die großen Wettkämpfe und Balls stattfinden, geht es in der Kiki-Szene familiärer zu. Sie dient unter anderem dazu, die Jugend abzuholen, die sich bei den Events ausprobieren und Spaß haben kann.
Houses: Die Wahlfamilie
Giftys Major House ist The Gorgeous House of Gucci. Die Häuser sind oft nach bekannten Designermarken und Modeunternehmen benannt. Wie man Mitglied wird? Das ist von House zu House unterschiedlich. Einige haben feste Regeln wie eine Probezeit oder führen Video-Calls mit potenziellen Mitgliedern, andere suchen die Familienmitglieder nach einer bestimmten Ästhetik oder den Categories aus. „Es ist sehr politisch“, sagt Zaniah. Gifty ergänzt: „Das ist wie Dating.“ Schließlich stünden Fragen im Vordergrund wie: Passt man zueinander? Kann man sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen? Fühlt man sich inspiriert? Wer sich besonders für sein House eingesetzt hat, kann wie Zaniah oder Gifty zur Mother oder Godmother ernannt werden. In der Regel leiten eine Mother und ein Father die Familie, es gibt aber noch weitere Titel wie Princess und Godmother.
„Ballroom hat so eine Magic. Es gibt Momente, da bist du in einem anderen Universum.“
Sahra Maria Abassi aka Zaniah Marciano Revlon
Laut Zaniah, Ava und Gifty gebe es derzeit keine in Deutschland gegründeten regionalen Houses mehr. Stattdessen sind viele die German oder European Chapters von Houses aus den USA. Das war nicht immer so: Im Jahr 2012 gründete Georgina Philp aka European Mother Leo St. Laurent mit dem House of Melody das erste deutsche House, das es mittlerweile nicht mehr gibt. „Das Modell kommt aus den States, aber die Menschen hier haben einen anderen Zugang zu ihrer Identität und Kultur und deswegen sieht unsere Szene auch anders aus und hat eine andere Awareness zu sich selbst“, erklärt Zaniah. „Es macht vielen Leuten aus den States sehr viel Spaß hierher zu kommen, weil die Leute anders drauf sind.“ Und so hatte auch Hamburg eine Zeit lang eigene Häuser, zuletzt das erst 2022 geschlossene Kiki House of Twinkle, gegründet von Father Domi Twinkle. Mit 15 Jahren besuchte Zaniah dessen Intro Class zu Voguing: „Ich hab’ direkt den Raum gespürt und wusste: Ich bin angekommen, these are my people!“ Anders als Evelyn und Gifty, die vorher auch House und HipHop getanzt haben, hat sie nicht über die Freestyle-Szene zum Ballroom gefunden. Die Tochter einer polnischen Mutter und eines iranischen Vaters hat früh mit sieben Jahren mit Jazz und Modern Dance angefangen, als Teenager dann Turniere getanzt. Alle drei haben also einen Tänzerinnen-Background und sich auch darüber vor rund sechs Jahren kennengelernt.
Der Hamburg Vibe
„Hier in Hamburg ist die Tanz-Szene sehr übersichtlich“, sagt Ava. Doch in den letzten Jahren sei die Ballroom Community gewachsen. „Um es mal in Zahlen zu sagen: Zu Noguing Zeiten (Anm. d. Red.: circa 2011 bis 2015/16) waren wir 10 bis 15 Leute und jetzt haben wir eine News-Channel-Gruppe mit 90 Personen“, berichtet die Tochter einer Afrobrasilianerin und eines Deutschen. Mittlerweile finden in der Hansestadt drei bis sechs große Ballroom-Events im Jahr statt, etwa auf Kampnagel, im Uebel & Gefährlich und beim Vogelball. Dafür reisen Menschen aus ganz Deutschland und internationale Gäste an. „Wir sind hier schon gut organisiert. Die Leute kommen gerne nach Hamburg und alle fühlen sie unseren Hamburger Vibe“, sagt Gifty. Sie wurde als Kind ghanaischer Eltern in Mülheim an der Ruhr geboren, zog aber mit zwölf Jahren in die Hansestadt. Ava pflichtet ihr bei: „Hamburg hat für mich diesen sehr liebevollen Umgang.“ Dennoch sei laut Zaniah in der Gemeinschaft nicht immer alles harmonisch: „Ballroom ist auch oft hart. Es ist viel Ego im Spiel, Menschen verletzten sich. Es ist immer noch eine Competition, man misst sich.“ Doch gerade für die 22-Jährige, die ihre Mutter mit 14 Jahren verloren hat, ist ihre „chosen family“ besonders wichtig.
„Auch ein weißer cis hetero Dude ist willkommen – als Gast“
Evelyn Lima aka Ava Angels 007
Was der Ballroom Community in Hamburg noch fehlt, ist ein eigener Raum, in dem die Szene regelmäßig zusammenkommen kann. Die drei träumen von einer Art Kulturhaus, in dem es die Möglichkeiten gibt, nicht nur Tanz und Performance, sondern unterschiedliche kreative Arbeit stattfinden zu lassen. Mit den Meow Mondayz haben Ava und Zaniah zumindest schon mal ein wöchentliches Format etabliert. Jeden Montag treffen sie sich – „einfach for fun“ – im Bahnhof Pauli für eine Open To All (OTA) Vogue Night und bringen Ballroom damit zurück in die Club-Atomsphäre, wo er auch entstanden ist. Das Ziel? Sich Ballroom spielerisch anzunähern, aber auch die Sichtbarkeit der Community zu steigern – insbesondere für eine bestimmte Gruppe. „Ich wünsche mir, dass wir mehr Zugang kreieren können für trans Personen of Color“, sagt Zaniah. „Dass diese Personen wissen, dass dieser Ort hier ist und dass sie jederzeit willkommen sind.“ Denn bislang besteht die Ballroom-Szene in Hamburg hauptsächlich aus queeren cis Frauen und einigen Butch Queens, wie schwule cis Männer in der Community bezeichnet werden. Die drei sind sich aber sehr bewusst, dass gerade trans Frauen, in der Szene Fem Queens genannt, Ballroom in seinen Anfängen geprägt haben. „Es wurde von Fem Queens gestartet – für Fem Queens. Es ist mir sehr wichtig, dass genau diese Identitäten in den Vordergrund gesetzt werden und die Tools kriegen, selbst Leader der Szene zu sein“, bekräftigt Zaniah.
Ballroom for Beginners
Wer sich der Ballroom-Szene annähern möchte, sollte zuerst einen öffentlichen Ball besuchen, um eine Vorstellung von Atmosphäre, Menschen und Ablauf zu bekommen. Bei diesen Events „ist auch ein weißer cis hetero Dude willkommen – als Gast. Diese Person zahlt Geld und unterstützt. Das schätze ich auf jeden Fall wert. Diese Person muss aber ihren Space kennen“, sagt Ava. Der „Space“ ist für weiße, außenstehende Personen in den hinteren Reihen des Publikums. Die Plätze auf der Bühne sind der Ballroom Community vorbehalten. Wer sich nicht daran hält, wird von den Mitgliedern schon mal ruppig des Platzes verwiesen. Denn einige Gäste würden in den Balls nur eine Show sehen, hätten sich vorher nicht mit der Geschichte und dem Verhalten bei diesen Events auseinandergesetzt. Wer Gefallen an der Ballroom Culture findet, kann sich im nächsten Schritt in einer Einstiegs-Session ausprobieren, die Leute kennenlernen und versuchen, die passende Category zu finden. Die Community lässt die Neulinge wissen, wenn sie bereit für ihren ersten Ball sind. Und vielleicht hat er eine ähnliche Wirkung wie auf Zaniah: „Ballroom hat so eine Magic. Es gibt Momente, wenn die Musik, der DJ, der Commentator, die Crowd, die Judges und deine Performance so stimmen – da bist du in einem anderen Universum.“