Dienstagnachmittag, Kickboxtraining: Mein Coach strahlt zur Begrüßung und faltet die Zeitung mit der Headline „Flüchtling flüchtet …“ zusammen. „Is ja auch egal, näch, die saufen ja eh alle irgendwann ab bei den billigen Kreuzfahrten, he he, ob nun hier oder in Afrika.“ Er zeigt auf das Foto mit dem Schlauchboot vor der italienischen Küste, grinst mich an und steckt die Trillerpfeife zwischen die Zähne. Rainer, 37 Jahre und von Beruf Unmensch.
Mittwoch zwischen Knust und Hanseplatte: „Alter, diese ganzen Flaschensammler hier, noch eine Frage nach meiner leeren Pulle und ich zieh denen richtig eine. Ich kann das nicht mehr ertragen, dieses Volk. Immer diese glupschigen Kuhaugen, als hätte auch nur einer hier Mitleid.“ Ich sitz auf dem Platz mit dem beknacktesten Namen der Stadt, LATTENPLATZ. Plötzlich schreit er eine Flaschensammlerin aus voller Kehle an: „Verpiss dich, du widerliche Kuh oder ich reiß dir den Arsch auf.“ Hipsterhippie aus Barmbek, 28 Jahre und von Beruf Arschloch.
Wochenende, Pushnachrichten: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag“, der Mann grinst mit sadistischer Vergnüglichkeit, „sind 69, das war von mir nicht so bestellt, he he, Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war. Äh, der vorvorletzte Flug war mit zehn.“ Vollhorst Seehofer, Schlimmerminister und von Beruf Barbar.
Montagabend, Heimweg: „Sie können mich an der Ecke rauslassen“, sage ich zum Taxifahrer als ich gestern Nacht aus einem bedrohten Raum auf der Veddel nach Hause komme. „Und am besten gleich ganz vom Planeten werfen“, denke ich, „bin nicht sicher, ob ich hier noch bleiben will.“
Denn hier bei uns reißen jetzt plötzlich Menschen den Mund auf, die frei von der Leber weg und ganz öffentlich, ihre Nachbarn, die arm, bedürftig, geknechtet, voller Leid und in Lebensgefahr sind, verprügeln, vergessen, ignorieren, deportieren oder lieber gleich ganz abmurksen wollen. Wir sind wieder Leute, die Sammelbegriffe wie DIE Flüchtlinge, DIE Flaschensammler, DIE Asis benutzen und damit ihr eigenes Mitgefühl vom Erlebten entkoppeln.
Aber, wenn in Thailand eine kleine Fußballmannschaft eingeklemmt ist, dann sind alle dabei. Warum? Sicherlich, die Story war sehr bewegend, doch auch die Leidensgeschichte der gefolterten Lehrerin Anin (27) ist es, deren zwölfjähriger Sohn Hanan beim Fußballtraining erschossen wurde und die von ihrem zweiten Sohn auf der Flucht mit dem Gummiboot getrennt wird, und die von David, dem Flaschensammler, dessen Eltern ihn blau prügelten und der schon als Kind vom Jugendamt aus der Familie geholt wurde. Ob in der Bahn, auf der Gartenparty oder im Großraumbüro – der bedrohte Raum des Monats ist ganz offensichtlich DIE Menschlichkeit.
Klar, alle haben Schiss vor irren Oligarchen, vor Klimawandel, fehlender Perspektive, Barbarei etc., aber wir Hamburger hier, wir sind mutig und stark. Wir wissen: Ohne Menschlichkeit kommen wir nicht klar, da geht es jedem von uns an den Kragen. Jeder von uns ist darauf angewiesen, dass sich ein Mitmensch zu ihm verhält. Also, geben wir diesen Mitmenschen wieder Namen und Geschichte und benutzen gefälligst KEINE Sammelbegriffe, sondern verhalten uns menschlich!
Eure Raumsonde
Andrea
To-Do-Liste
👉Aus gegebenem Anlass hier für euch ein Katalog an menschlichen Verhaltensweisen für Beginner. Sucht euch so viele aus, wie ihr mögt, geht richtig hart shoppen und verhaltet euch wieder wie Menschen.
Achtsamkeit
Akzeptanz
Anstand
Anteilnahme
Aufgeschlossenheit
Aufmerksamkeit
Aufrichtigkeit
Begleitung
Behutsamkeit
Bescheidenheit
Bestärkung
Bewusstsein
Bildung
Dankbarkeit
Demokratie
Demut
Durchblick
Eigenständigkeit
Eigenverantwortlichkeit
Einfühlung
Empfindsamkeit
Entgegenkommen
Erbarmen
Freiheit
Freundlichkeit
Geduld
Gefühl
Gegenseitigkeit
Gemeinnützigkeit
Gemeinsamkeit
Gerechtigkeit
Gewissen
Großherzigkeit
Güte
Hilfsbereitschaft
Hoffnung
Humor
Identität
Innerlichkeit
Interesse
Klugheit
Konsequenz
Kommunikationsfähigkeit
Kompromissbereitschaft
Kreativität
Kritikfähigkeit
Kunstverständnis
Lernfähigkeit
Liebenswürdigkeit
Logik
Menschenrechte
Milde
Mitgefühl
Mitmenschlichkeit
Moral
Musikalität
Mut
Nähe
Natürlichkeit
Offenheit
Ordnungswille
Recht
Respekt
Risikobereitschaft
Selbstachtung
Selbstbeschränkung
Selbstdisziplin
Selbstvertrauen
Selbstwahrnehmung
Solidarität
Standhaftigkeit
Toleranz
Treue
Tugend
Unabhängigkeit
Unbefangenheit
Unterstützung
Verantwortlichkeit
Verbindlichkeit
Vernunft
Versöhnlichkeit
Verständnis
Vertrauen
Vorsicht
Wärme
Wandlungsfähigkeit
Warmherzigkeit
Wertschätzung
Wissen
Würde
Zivilcourage
Zusammenarbeit
Zugehörigkeit
Zuverlässigkeit
Zuversicht
Zuwendung
…
Who the fuck is…
Andrea Rothaug ist eine musikalische Raumsonde mit Hang zum Wort, Kulturmanagerin, Autorin, Dozentin, Veranstalterin, Präsidentin. Was diese Frau so alles treibt, erfahren Sie unter www.andrearothaug.de
Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG Stadtmagazin, August 2018. Das Magazin ist seit dem 28. Juli 2018 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!
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