Die monatliche SZENE HAMBURG-Kolumne von Andrea Rothaug
Eigentlich geh ich ja nur noch nach Ottensen, um meine Freundin Heidrun zu besuchen. Heidrun – wie das schon klingt, nach 63-geborener, vermutlich schon mit kastaniengefärbter Mähne auf die Welt Gekommener – ein bisschen Wendland und ‘ne Prise Brotgewürz. Heidrun, das klingt für mich nach Alt-Ottensen. Denn in Ottensen wohnten genau diese Leute, denen es gemütlich ums Herz geworden ist, seit sie Popkultur, Gorleben, Pershings, Rauchen, Schnaps und Döner aufgegeben haben. Heute sind viele Ottensener brave Grünwähler mit solidem Einkommen und ehrenamtsbewusstem Lebenswandel. Aus Protesttierchen wurden Profittierchen. Lasst sie uns erwecken.
Denn zur absoluten No-Go-Area wird Ottensen jetzt, wo es kneipenkulturell dem Siechtum geweiht ist. Denn der graumelierte Neu-Ottensener fährt heute lieber SUV als sich des Nachts in Bars und Kneipen herum zu treiben. Und überhaupt: Ottensen kriegt jetzt, was es verdient: gepfefferte Mietpreise für Allesrichtigmacher und Eigentumsquatsch für ihre ferkelfrischen Erbschaftsdandies. Der Markt kennt schließlich keine Moral, er kennt nur Mechanismen.
Das Blaue Barhaus, Planet Subotnik, Insbeth, Kir, Min Jung, Zeiß-Klause, Vogel, Seis oder die Spritzenklause – alle schon mausetot. Die eingeborenen Ottensener wundern sich nicht, sagt Heidrun, die Neuottensener Hipster müssen ja schließlich irgendwo hin. Aufwertung, Wohnraumverdichtung, Immoblase. Und solange sie nicht ausgehen und alles wieder schön schmutzig machen wie vorher, wird das auch so weitergehen! Dieser Tage lag ihr Raum 43 auf dem Hackbrett, drastische Mieterhöhung für Yücel und weg ist die Bar. Kommt nie wieder! Und nun soll nach zehn Jahren auch noch die Bar Aurel zum Schafott geführt werden. Der ganze Gebäudekomplex samt Penny und Blumengeschäft soll in drei Jahren abgerissen werden.
Das ist furchtbar, aber ganz ehrlich: Wer‘s gern ruhig, gesund und sauber mag, der nüstert halt nicht gern am Furz der kneipenhockenden Bourgeoisie. Dem bedeuten schummerige Kaschemmen erst dann was, wenn sie weg sind. Also spätestens jetzt?
Genau! Die Neu-Ottensener und ihre Kinder benötigen jetzt nämlich dringend verschworene Nischen, um genau darüber zu trauern, aber auch zum Ideenschmieden für die bevorstehende Re-Verschmutzung ihres Stadtteils, damit Bar, Eckkneipe und Musikbühne wieder als Orte unkontrollierten Rückzugs und schmuddeliger Konspiration genutzt werden können. Damit die Kneipe als optimaler Ort des Widerstandes gegen Langeweile, Renditendenke und Vollkorneltern wieder flott wird. Ottensen braucht laute Bars, miefige Kneipen und nervige Musikszenen mehr denn je, denn nur wenn der Stadtteil übel mieft, sehr gefährlich und viel zu laut ist, bleibt der Raum bezahlbar.
Deshalb hier mein Ottenser Rezept: Entwickeln Sie 1 x täglich einen unbezahlbar widerständigen Gedanken in einer miefigen Ottensener Kneipe und saufen Sie einen halben Liter Geistreiches, um der finalen Verwertung Ottensens eine gehörige Schaufel Schmutz in den Rachen zu pusten. Gute Besserung!
Who the fuck is…
Andrea Rothaug ist eine musikalische Raumsonde mit Hang zum Wort, Kulturmanagerin, Autorin, Dozentin, Veranstalterin, Präsidentin. Was diese Frau so alles treibt, erfahren Sie auf Ihrer Website