SZENE HAMBURG: Carsten Marek, ein weiter Blick zurück: 1978 sind Sie nach St. Pauli gekommen. Wie haben Sie das Milieu auf den ersten Blick erlebt?
Carsten Marek: Ich war damals 18, habe Kampfsport gemacht, Karate. Ich hatte auch nur den Sport im Kopf. Erst später, so mit 20, habe ich verstanden, dass ich auf dem Kiez mit Leuten aus dem Milieu trainierte. Das waren Leute mit Benz und Rolex. Wenn die vor irgendeinem Club standen, brauchten die nur das Handgelenk zeigen und kamen rein. Das hat vielen imponiert, mir auch.
Sportlich lief es eigentlich ziemlich gut, Sie hätten auch eine große Karate- statt einer Zuhälterkarriere haben können …
… stimmt, ich hatte den schwarzen Gürtel im Karate, war in der Nationalmannschaft. Ich war stink-solide. Aber auf einmal hatte ich die Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen.
Wie ging das los?
Ich habe mit einer rumgeturnt, von der alle wussten, dass sie ackern geht, nur ich nicht. Die hat mich auch ein bisschen ausgehalten. Irgendwann hat mir einer gesteckt, dass sie das macht. Ich habe ihr eine Szene gemacht! Und sie nur so: „Aber das Geld nimmst du, oder?“ Naja, und dann ging das Schritt für Schritt, ich wurde Wirtschafter im Eros-Center, Mitglied von Nutella (Zuhälterzusammenschluss mit Hauptgeschäft in den 1980er-Jahren; Anm. d. Red.) und so weiter.
„Das Milieu ein Stück weit menschlicher gemacht“
So weit, dass Sie irgendwann einer der mächtigsten Männer auf dem Kiez waren. Was war in Ihren Augen rückblickend das Beste, was Sie aus dieser Macht gemacht haben?
Ich habe die harten Regeln, die damals galten, zwar nicht abgeschafft, aber deutlich gemildert. Ich habe das Milieu ein Stück weit menschlicher gemacht.
Inwiefern?
Die Frauen hatten bis dahin keinen Urlaub. Alle waren gierig und wollten, dass weitergearbeitet wird, immer weiter. Es gab ja so viel Geld zu verdienen. Ich habe dafür gesorgt, dass Urlaub gemacht wird. Ich fand schlimm, wie sich da ohne Ende abgerackert wurde. Zudem habe ich eingeführt, dass während des Urlaubs von den Frauen keine Miete gezahlt werden musste.
Und was zählen Sie zu Ihren größten Fehlern?
Ich hätte am Ende nicht mit so vielen Leuten zusammenarbeiten sollen. Als ich das alles alleine gemacht habe, lief das ganz harmonisch. Als wir irgendwann rund 20 Mann waren, wurde die Sache komplizierter, weil demokratischer. Es gab immer Diskussionen. Und ich bin ein Typ, der sich gerne überzeugen lässt. Dadurch wurde ich schwächer. Sich reinquatschen lassen, das war genau genommen sogar mein einziger Fehler.
Apropos schwächer: Das wurden Sie und alle anderen Kiezgrößen Jahr für Jahr, noch in den 1980ern …
… und das hat mit den Schießereien angefangen. Die haben alles verändert. Irgendwann kam Werner Pinzer als Auftragsmörder auf den Kiez (mehrere Morde und schließlich Selbstmord Mitte der 19080er; Anm. d. Red.), das hat wirklich alles kaputt gemacht. Man wusste ja gar nicht mehr, wer der nächste sein würde. Die Schießereien und später die Drogen – Happy-Pillen gefolgt von Kokain: Dieser Mix hat auf dem Kiez für eine Feindseligkeit gesorgt, die das Ende bedeutete.
Hätten Sie die Möglichkeit, noch mal in die sogenannten goldenen Zuhälterjahre zurückzureisen, würden Sie es tun?
Auf jeden Fall.
50 Jahre Zur Ritze
Für Sie ging es im Gegensatz zu anderen Kiezgrößen weiter auf St. Pauli. Vor rund zehn Jahren haben Sie die Kultbar Zur Ritze auf der Reeperbahn übernommen. Die feierte kürzlich 50-jähriges Bestehen. Welches Gefühl herrschte bei Ihnen rund ums Jubiläum vor?
Schon ein tierischer Stolz. In den 1980er-Jahren habe ich hier noch im Boxkeller trainiert, bin Stück für Stück reingewachsen in den Laden. Außerdem weiß ich noch genau, wie schwierig es damals war, ihn zu übernehmen – und wer ihn sonst alles haben wollte. Da waren Leute, die von Konzernen vorgeschickt wurden. Welche, die eine Million geboten haben. Man kann sich vorstellen, dass ich es nicht unbedingt leicht hatte. Ich habe mich dann aber mit Kirsten (Ehefrau von Hanne Kleine, vorheriger Betreiber; Anm. d. Red.) geeinigt. Unter anderem habe ich ihr versprochen, dass alles so bleibt, wie es ist. Das habe ich – auch wenn es nicht immer einfach war – bis heute eingehalten.
Alle waren gierig und wollten, dass weitergearbeitet wird, immer weiter
Carsten Marek
Einst hätte man gesagt, Ihnen und Ihren Mitstreitern gehörte der Kiez. Wem gehört er heute?
Der Kiez gehört heute niemandem mehr. Zwar sind noch einige meiner Leute aktiv und ziehen die Strippen, aber nichts ist mehr wie früher. Alles ist eher einvernehmlich. Es gibt ja auch nicht mehr viel, worüber man sich streiten könnte.
„Kiezlife Live“: Neue Geschichten von früheren Kiezgrößen
SZENE HAMBURG: Jasmin Taiebi, die Jungs um Carsten Marek zu den angesprochenen goldenen Zuhälterjahren: Wären das welche gewesen, die Sie bewundert hätten, wären Sie damals als junge Frau auf dem Kiez gewesen?
Jasmin Taiebi: Absolut nicht! Ich bin völlig anders sozialisiert. Ich komme aus einer iranischen Akademikerfamilie, bin in Süddeutschland auf ein katholisches Mädchengymnasium gegangen, habe später Jura studiert und als Strafverteidigerin gearbeitet. Zu Menschen aus dem Milieu hatte ich gar keine Berührungspunkte – es sei denn, sie waren meine Mandanten.
Vor rund 20 Jahren haben Sie die Branche gewechselt und sind zum Fernsehen gegangen …
… weil ich eine Vorliebe für Menschen und ihre Geschichten habe. Außergewöhnliche Biografien finde ich enorm spannend. Vor dem Hintergrund eines Storytellers bin ich davon sehr fasziniert.
Jetzt sind Sie Produzentin und Moderatorin von „Kiezlife Live“. Die Geschichten, die im Boxkeller der „Ritze“ präsentiert werden, kursieren seit mehr als 50 Jahren. Hatten Sie nicht mal das Gefühl: Der Kiez ist auserzählt?
Nein, denn es geht um bisher nicht erzählte Storys und auch um neue Geschichten, die unsere Originale in ihrem täglichen Wahnsinn auf St. Pauli erleben. Wer sich für das Leben auf dem Kiez interessiert, den interessieren auch die Originale, die bei „Kiezlife Live“ dabei sind, unter anderem Carsten, Schnecke, Fritz Forster und Milliarden Mike. Die Runde im Ring deckt auch verschiedene Zeitspannen ab, von den goldenen Jahren bis heute. Auch jüngere Kiezpersönlichkeiten wie Ricarda Belmar, die alte Bordelle in schicke Ferienapartments für Touristen umbaut, und Cü, der Tattoo-Mann, mit diversen Läden rund um die Reeperbahn, vom Barbershop über Tattoo-Bedarf bis hin zu internationalen Süßigkeiten, plaudern aus dem Nähkästchen.
Diese unfassbar spannenden Geschichten direkt zu hören – die Möglichkeit wird einem nicht häufig geboten. Das Publikum darf zudem auch Fragen stellen. Das alles ist schon etwas Besonderes. Unser Ziel ist es übrigens, das Ganze irgendwann nicht nur in der Ritze zu machen, sondern vor noch mehr Menschen. Wir wollen mit der Show durch ganz Deutschland touren.
„Kiezlife Live“, 1.+15. Dezember 2024, 19 Uhr und 12. Dezember 2024, 20 Uhr, Zur Ritze
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 12/2024 erschienen.