Regisseurin Chiara Fleischhacker: „Ich orientiere mich am Leben, nicht an Filmen“

Mit ihrem Debütfilm „Vena“ war Regisseurin Chiara Fleischhacker eine der Entdeckungen auf dem Hamburger Filmfest 2024. Ein Interview über die Bedeutung von Filmpreisen, Selbstwert und Mutterschaft
Chiara Fleischhacker (r.) am Set von „Vena“ (©Isabell Kessler)

SZENE HAMBURG: Du hast Regie/Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und im Anschluss ein paar Kurz- und Dokumentarfilme gedreht. Wie ist in dir die Idee gewachsen, einen Spielfilm zu machen?

Chiara Fleischhacker: Ich habe zuerst Psychologie in Freiburg studiert und dort „Das Gefühl des Augenblicks“ gelesen – ein Buch zur Dramaturgie des Dokumentarfilms. Der Blick auf die Welt und das Menschsein, was ich dort erfahren konnte, hat mich fasziniert. Das war der Anfang meiner Faszination für den Dokumentarfilm. Irgendwann habe ich ein Porträt über einen wegen Mordes verurteilten Mann gedreht, wodurch bei mir die Frage nach Nähe und Distanz im Dokumentarfilm sehr brisant geworden ist. Ich finde es sehr schwierig, sich so tief in ein Leben einzuarbeiten, dennoch aber die nötige Distanz zu finden. Damals war ich gerade 24, das hat mich sehr beschäftigt. Kurz darauf bin ich an die Filmhochschule La fémis nach Paris gegangen und habe dort ein Programm besucht, dass szenisch ausgerichtet war – dort habe ich Blut geleckt.

Die emotionalen Ebenen in „Vena“

„Vena“ startet am 28. November 2024 in den deutschen Kinos (©Weltkino)

Du hast zu „Vena“ auch das Drehbuch geschrieben. Einige deiner vorherigen Filme spielen im Strafvollzug, Mutter bist du auch – beides zentrale Themen in „Vena“. Kam dadurch die Geschichte zustande?

Ja. Ich war gerade mit meiner Tochter schwanger, hatte mich bis dato sehr auf den Männerstrafvollzug fokussiert, mich durch meine Situation dann aber gefragt, wie das wohl für schwangere Frauen sein muss. Das war der Initiator, um eine sehr umfangreiche Recherche zu starten, aus der ich dann angefangen habe, das Drehbuch zu schreiben.

Das klingt sehr anstrengend.

War es auch, aber ich habe mich mit der Darstellung von Müttern in Filmen gar nicht identifizieren können und habe mich damals total unterrepräsentiert gefühlt. Ich hatte ein starkes Bedürfnis, Bilder in die Welt zu tragen, die immer noch nicht vorhanden sind, und die große Irritationen bei vielen auslösen, die Eltern werden: Warum fühlt sich das so anders an, als ich es bisher gesehen habe? Bin ich komisch? Bin ich anders? Bin ich allein? Mir war es wichtig, ein realistischeres Bild von Mutterschaft zu zeigen.

Also war dein Zugang zu „Vena“ vor allem emotionaler Natur?

Ich verstehe erst jetzt, warum es mir damals so wichtig war, „Vena“ zu schreiben. Ich habe damals selbst in einer sehr ungesunden Beziehung gelebt und merke jetzt, wie viel die emotionalen Ebenen im Film mit meinen damaligen Leben zu tun hatten. Ich weiß, wie sich das anfühlt, sich an jemanden zu binden, der einem nicht gut tut; wie es ist, sich nicht wertvoll genug zu fühlen. Ich weiß, wieso man sich lange in ungesunden Situationen hält, obwohl man eigentlich ausbrechen müsste. Jenny, die Hauptfigur in „Vena“, geht ihre Schritte, weil ich die damals gehen musste.

Chiara Fleischhacker sieht Filmpreise kritisch

Chiara Fleischhacker: „Film ist ein Feld, in dem man seine Arbeit meiner Meinung nach nicht bewerten lassen kann, das ist ja eine Form von Kunst“ (©Elisabeth Langer)

Mit „Vena“ hast du beim Filmfest Hamburg in der Kategorie „Deutsche Kinoproduktionen“ gewonnen, außerdem den First Steps Award für den „besten abendfüllenden Spielfilm“ und den Michael-Ballhaus-Preis für die Kamerafrau Lisa Jilg. In der Begründung bei den First Steps Awards hieß es, dass du eine Geschichte erzählst, die vor Klischees nur so triefen könnte, dass es dir aber gelungen sei, dem Publikum die Welt von Jenny ohne Sozialkitsch näherzubringen. Wie hast du das hingekriegt?

Der Gedanke, Jenny durch die Bildsprache wertschätzend darzustellen, durch die Farben, die Elemente, die sie ausmachen, die war schon sehr früh da. Mir war klar, dass ich mich übers Bild und die Geschichte abgrenzen muss von den Konnotationen, in die eine Figur wie Jenny oft gesetzt wird – zumal ich sie eben auch nicht so weit weg von unserer Lebensrealität empfinde. Jenny als Figur ist durch viele Gespräch mit Menschen aus der Recherche, aber auch Beobachtungen in meinem Lebensumfeld entstanden. Ich habe mich viel am Leben orientiert, nicht an Filmen.

Weil wir gerade über Preise sprechen. Allzu viele Filme hast du bisher noch nicht gedreht, im Vergleich dazu aber schon jede Menge Preise gewonnen. Was bedeuten dir solche Preise?

Um ehrlich zu sein, stehe ich Preisen sehr kritisch gegenüber. Ich komme aus dem Leistungssport, bin 800 Meter gelaufen, und habe mich von der Leichtathletik abgewandt, weil ich dieses Konkurrieren als sehr ungesund empfunden habe. Ich habe dem Druck damals nicht standgehalten, hab Essstörungen entwickelt. Das war keine Welt, von der ich Teil sein wollte. Film ist ein Feld, in dem man seine Arbeit meiner Meinung nach nicht bewerten lassen kann, das ist ja eine Form von Kunst. Viele Filmschaffende sind aber so stark auf Festivals und Preise ausgerichtet, was uns alle vom eigentlichen Ansatz ablenkt, gute und relevante Geschichten zu erzählen.

Selbstwert als übergeordnetes Thema

Zumal ja auch selten klar ist: Wer bewertet was nach welchen Kriterien?

Ganz genau. Wer sitzt in den Jurys, welche Prägung haben die Leute dort, wen zeichnen die aus welchen Gründen aus und was sind die Werte, die sie vertreten? Die aktuelle Debatte um die CamerImage ist da ein gutes Beispiel. Aber die ganze Filmförderung baut dennoch auf diesen Referenzmitteln auf. Ich würde mir daher definitiv eine Entfernung von diesen Wettbewerben und Preisen wünschen und glaube, dass das dem Film sehr guttun würde.

Apropos Selbstwert: Das scheint mir auch ein übergeordnetes Thema von „Vena“ zu sein.

Absolut. Solche Fragen wie: Wie finden wir als Menschen unseren Selbstwert? Wie stehen wir für uns ein? Das sind Prozesse, die uns alle lange begleiten. Manche Menschen verlieren da Jahrzehnte ihres Lebens, gehen unzählige Umwege, ohne da zu einer gesunden Erkenntnis zu gelangen. Und mein Wunsch als Filmemacherin wäre natürlich, dass man in Jenny eine Figur findet, der dieser Prozess gelingt und an der man merkt: Das könnte ich auch schaffen.

„Vena“ erzählt die Geschichte einer von Crystal Meth abhängigen Mutter und stellt dem Publikum die Frage: Wie kommt man da raus? (©Lisa Jilg)

Mit Suchtformen die innere Leere füllen

Seit ich Vater bin, fällt es mir ungemein schwer, mir Filme und Serien anzusehen, in denen Kinder zu Schaden kommen. Die Kinder in „Vena“ haben einen denkbar schlechten Start ins Leben. Ist es dir schwergefallen, das herauszuarbeiten?

Jenny konsumiert Crystal, und das ist für ungeborene Kinder so ziemlich das Schlimmste, was man ihnen antun kann – einhergehend mit dem mentalen Ballast. Fakt ist aber ja, dass es Frauen wie Jenny gibt und ich mir die Frage gestellt habe: Wie kommt man da raus und was ist der Ursprung von Konsum? Crystal ist für mich aber lediglich ein Symbol für alle Suchtformen, die es gibt – und eher ein Ausdruck dafür, dass Menschen versuchen, irgendwie ihre innere Leere zu füllen.

Eine Umstand, den die meisten Menschen sicher kennen.

Bestimmt – wenn auch hoffentlich nicht mit einer solchen Suchtgeschichte. Eine Therapeutin meinte in einem Gespräch mal zu mir: „Die Mütter müssen begreifen, dass sie das Kind nicht als Rettung sehen können – und nicht nur des Kindes wegen aufhören zu konsumieren.“ Denn um nachhaltig abstinent zu bleiben, müssen die für sich selbst den Wunsch treffen, ein gesünderes Leben zu führen. Das hat ganz viel mit dem bereits erwähnten Selbstwert zu tun, den wir alle halten und kultivieren sollten. Deswegen ist das für mich eher ein Sinnbild dafür, für uns einzustehen und für die nachfolgende Generation da zu sein. Das betrifft nicht nur Drogenkonsum, sondern auch Traumata, die man auf Kinder überträgt. Daher sollte man es immer schaffen, seine Themen zu klären, um Kindern im besten Falle etwas Besseres mitzugeben.

Vena“, Regie: Chiara Fleischhacker. Mit: Emma Nova, Paul Wollin, Friederike Becht. 115 Minuten. Ab 28. November 2024

Hier gibt’s den Trailer zum Film:

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Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 12/2024 erschienen. 

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