Zweites Februar-Wochenende. Curling Club Hamburg. Hagenbeckstraße. Deutsche Meisterschaft. Halbfinale. Drei Herren über 40 und ein weiterer Herr über 50 verausgaben sich völlig. Sie spielen ihre Steine mit Schwung Richtung Eismitte. Sie wischen, bis Muskelkrämpfe kommen. Mit großer Hingabe an ihren Sport schaffen sie ein ehrenvolles 2:7 gegen das Profiteam Totzek – und Platz drei. „Jetzt haben wir alle körperliche Beschwerden. Aber wir haben uns besser verkauft als gedacht und wieder gezeigt: Das beste Hamburger Team sind wir immer noch“, sagt Christopher Bartsch (46).
Peter Rickmers (45), Sven Schulze (44), Sven Goldemann (55) und Bartsch haben ein weiteres Kapitel ihrer schier unendlichen Underdog-Geschichte geschrieben. In der Vorrunde hatten sie das Team Totzek gar mit 9:6 geschlagen und gegen die Europameister und späteren deutschen Meister vom Team Muskatewitz nur 8:9 verloren. Dabei haben die vier Hamburger Herren ihre Karriere 2015 offiziell beendet. Nachdem sie ein Jahr zuvor deutsche Sportgeschichte geschrieben hatten.
Bartsch, Rickmers, Goldemann, Schulze und das damals fünfte Teammitglied Johnny Jahr (59), die für Deutschland auch an Welt- und Europameisterschaften teilnahmen, qualifizierten sich als reines Hamburger Amateurteam für die Olympischen Spiele im russischen Sotchi. Es war eine Sensation, die einen gigantischen Medienrummel auslöste und Curling, diese taktisch-raffinierte Sportart mit den rund geschliffenen Steinen, plötzlich ins Zentrum der bundesweiten Aufmerksamkeit rückte. Ihre Erinnerungen daran sind teilweise ungewöhnlich. Alle vier loben die Organisation in Sotchi und haben das Gefühl genossen, dabei sein zu dürfen. „Du weißt, du bist jetzt hier zusammen mit den besten 3000 Athleten des Planeten. Das ist schon cool“, erklärt Schulze.
Desillusioniert von Olympia 2014 in Sotschi
Doch von reiner Schwärmerei sind sie alle weit entfernt. „Der schönste Moment damals war unsere Qualifikation für Olympia in Füssen. Dieses Aha-Erlebnis habe ich so im Sport nie wieder gespürt. Die viele Presse war gut für unseren Sport. Wir haben uns gerne Zeit für die Journalisten genommen. Ich persönlich konnte es nur gar nicht so genießen, weil es so viel war“, sagt Goldemann. Ein normales Training, da sind sie sich einig, war kaum noch möglich. Dazu kam der Druck, sich im Vorfeld der Spiele ständig für Dopingproben bereitzuhalten und somit rund um die Uhr kontrolliert zu werden. „Selbst wenn ich mit meinen Kindern ins Schwimmbad ging, musste ich vorher eine SMS nach London schicken, wo ich jetzt bin und über welchen Zeitraum ich jetzt nicht ans Handy kann“, so Schulze.
Bartsch erinnert sich an verletzende Kommentare der deutschen Funktionäre gegen deutsche Sportler noch während der Wettkämpfe, wenn diese die gewünschte Leistung nicht brachten. Und an eine weitere Story, die tief blicken lässt. „Auf dem Rückflug vor der Landung in München wies ein Funktionär alle Medaillengewinner an, sich im Flugzeug vorne hinzusetzen. Sie sollten beim Aussteigen gemeinsam zu Bundespräsident Joachim Gauck aufs Podium gehen. Wer keine Medaille gewonnen hatte, musste sich im Flugzeug nach hinten setzen, beim Aussteigen seine eigene Tasche und die eines anderen Sportlers tragen und sich neben das Podium stellen. Ich war desillusioniert. Und habe mich gefragt, was das mit dem olympischen Gedanken zu tun haben soll?“

Der Curling Club und der olympische Gedanke
Diesen olympischen Gedanken hatten Bartsch, Schulze, Rickmers, Goldemann und Jahr schon sehr früh gelebt. Die ersten drei spielten schon als Kinder im Curling Club Hamburg zusammen. Goldemann und Jahr stießen später dazu, wobei Goldemann schon zuvor als ihr Trainer bei den Junioren fungiert hatte. Bereits mit neun Jahren formulierte Bartsch seinen Wunsch. „Ich habe damals gesagt, ich will mit diesem Team zu Olympia. Und man kriegt ja, was man sich vornimmt“, sagt er lächelnd. Als reines Amateurteam lebten alle gemeinsam ihren Sport. Und vor allem ihre Freundschaft. „Wir wissen genau, wie der andere tickt, was er braucht. Auf dem Eis und außerhalb“, sagt Schulze. „Unser Thrill war immer, uns mit den besten Teams zu messen. Gemeinsam reisen, Curling spielen und zusammen für uns Erlebnisse schaffen“, sagt Bartsch.
Diese Freundschaftsmotivation gipfelte in Füssen schließlich in der Qualifikation für Olympia. Nach zwei verlorenen Quali-Spielen legte das Team um Felix Schulze als Skip (so etwas wie ein Teamchef) einen Durchmarsch mit lauter Siegen hin. Doch nach dem letzten Platz bei Olympia (Bartsch: „Wir hätten alles auf Reset stellen und uns statt dem Motto ,Dabei sein ist alles‘ ein neues Ziel setzen sollen.“) fiel das Team in ein Loch. Die Idee von einer Profikarriere scheiterte letztlich an den Bedingungen in den Athletenvereinbarungen. Eine davon: Selbst bei Erfüllung bestimmter Leistungsnormen hätte der Bundestrainer ein anderes Curling-Team zu Olympia schicken können.

Curling Club Hamburg: Zusammengeschweißte Gemeinschaft
Auf so unsicheres Terrain wollte das Hamburger Olympiateam weder die eigenen Familien schicken noch dafür die eigenen Berufslaufbahnen an den Nagel hängen. Ein Jahr nach Olympia machten sie deshalb Schluss. „Schon nach Olympia haben wir uns nicht mehr gefühlt wie Schauspieler, die auf der Bühne erkannt werden. Wir waren wieder ganz normal in unseren Alltag integriert“, sagt Bartsch. Doch mit dieser Entscheidung begann ein in der Öffentlichkeit weit weniger beachtetes Kapitel. Mit Ausnahme von Jahr traf sich das Hamburger Olympiateam von 2014 noch ab und zu zum Training. Wurde die deutsche Meisterschaft in Hamburg ausgetragen, waren sie dabei. 2017 wurden sie sogar noch deutscher Meister, selbst 2024 Dritter. „Dabei haben wir im letzten Jahr nur ein echtes Teamtraining gehabt“, so Bartsch. „Wir verstehen uns aber blind und das macht viel aus“, ergänzt Rickmers.
Wir wissen genau, wie der andere tickt, was er braucht. Auf dem Eis und außerhalb
Sven Schulze
Automatismen und Spielphilosophie sitzen. Ihre jahrzehntelange Erfahrung mit dem Curling und ihre unverbrüchliche Freundschaft hat sie zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt, die selbst mit wenig Training, aber mit großer Leidenschaft, noch gegen Profiteams mithalten kann. Hinterher tun ihnen zwar alle Knochen weh – aber das war es dann wert. Nur: wie lange noch? Werden sie alle noch mit 60 Jahren auf dem Eis stehen und den Jungspunden ein harter Gegner sein, die selbst wie einst sie zu Olympia fahren wollen? „So lange wir auf dem Eis Spaß miteinander haben, werden wir miteinander spielen“, sagt Rickmers. Ein Datum haben sie sich nicht gesetzt. Die vier Freunde machen einfach immer weiter.