Der Mikrokosmos Schule in das Lehrerzimmer

İlker Çatak hat mit „Das Lehrerzimmer“ einen eindrücklichen Film über den Mikrokosmos Schule als Abbild unserer Gesellschaft gedreht. Zum Filmstart sprach der Regisseur über vermeintliche Wahrheiten und eine aus dem Ruder laufende Debattenkultur
Regisseur Ilker Çatak am Set (©Judith Kaufmann/Alamode Film)

SZENE HAMBURG: İlker, was hat dich zu dem „Lehrerzimmer“ inspiriert?

İlker Çatak: Mit Johannes Duncker, mit dem ich in Istanbul zur Schule gegangen bin und jetzt auch das Drehbuch geschrieben habe, sind wir auf das Thema gekommen. Wir haben uns an eine Szene aus unserer eigenen Schulzeit erinnert.

Welche Erinnerungen waren das?

Es ist eine Szene, die sich auch in dem Film wiederfindet, als es um Diebstahl und das anschließende Filzen der Schüler geht. Da kamen drei Lehrkräfte rein, baten die Mädels raus und die Jungens wurden gefilzt. In der Recherche sagte man uns, dass so ein Vorgehen heute nicht mehr möglich sei. Außer, wenn es unter dem freiwilligen Aspekt geschieht. Das ist ja das Perfide, dass die Schulleiterin im Film sagt, es ist freiwillig und wer nichts zu verbergen hat, müsse sich auch keine Sorgen machen. Dieses perfide Spiel der Hierarchien hat uns gereizt.

Welches Spiel der Hierarchien?

Schule ist ein tolles Modell, um Gesellschaft abzubilden. Du hast ein Staatsoberhaupt, du hast Lehrer*innen mit Macht, du hast mit der Schülerzeitung ein Presseorgan, also ganz viele Elemente, die unsere Gesellschaft ausmachen. Und als wir dann so philosophiert haben, fiel uns auf, dass auch jede Gesellschaft einen Sündenbock braucht. So hat sich die Geschichte geformt.

Wo ist denn Schule sonst noch Abbild aktueller Entwicklungen?

Zumindest in der von uns dargestellten Schule ist auffällig, auf welche Weise jeder und jede die Wahrheit für sich in Anspruch nimmt. Wie alle Recht haben wollen. Aber auch, wie Wahrheit verdreht wird, Stichwort Fake News, Cancel Culture, eine empörte Jugend.

Das Chaos unserer Zeiten

Der Cast ist extrem divers. Es gibt ein Mädchen mit Kopftuch und viele Kinder mit Migrationshintergrund. Auch das ein Spiegel unserer Gesellschaft?

Ich wollte, dass die Klasse eine bunte Mischung ist. Und bei dem Mädchen mit Kopftuch wollte ich, dass sie perfektes Deutsch spricht und sich in der Schülerzeitung als Journalistin engagiert. Aber auch Figuren wie Ali, der schnell des Diebstahls bezichtigt wird. Da spielt natürlich auch viel meiner eigenen Identitätsfindung als Kind türkischer Eltern rein.

Das Kollegium ist überwiegend weiß, mit einer Ausnahme. Warum diese Figur?

Weil sie eine der Absurditäten des aktuellen Diskurses deutlich macht. Die einzige Person of Colour, die ganz sicher selbst schon Rassismus erfahren hat, wird plötzlich des Rassismus beschuldigt. Das spiegelt eine Debatte wider, die manchmal völlig durcheinandergerät. Das war auch der Gedanke, als wir das Buch geschrieben haben: Vom Chaos unserer Zeiten zu erzählen.

Im Verlauf des Films wird es zunehmend schwieriger, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, wer gut oder böse?

Genau das macht für mich eine gute Geschichte aus. Geschichten, die das Gute bejubeln, das Böse verteufeln, haben wir schon viel zu viele. Ich finde, wir brauchen Geschichten, die ambivalent sind und nicht die Wahrheit für sich beanspruchen.

„Das Lehrerzimmer“, Regie: İlker Çatak. Mit Leonie Benesch, Michael Klammer, Rafael Stachowiak. 98 Min. Ab dem 4. Mai im Kino

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 05/2023 erschienen.

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