Demis Volpi: „John Neumeier habe ich schon als Schüler kennengelernt“

Der 38-jährige gebürtige Argentinier Demis Volpi spricht über seine Pläne als neuer Intendant des Hamburg Ballett in der Nachfolge John Neumeiers an der Staatsoper Hamburg und zeigt im Rahmen seines ersten großen Tanzabends „The Times Are Racing“ seine eigene Choreografie „The thing with feathers“
Demis Volpi
War bis zum Sommer 2024 Direktor und Chefchoreograf des Ballett am Rhein: Demis Volpi (©Kiran West)

SZENE HAMBURG: Herr Volpi, was ging Ihnen durch den Kopf, als man Sie gefragt hat, ob Sie die Nachfolge John Neumeiers antreten möchten, der in den letzten 51 Jahren als Chef der Hamburg Balletts Tanzgeschichte geschrieben hat?

Demis Volpi: Ich war überwältigt und hatte auch etwas Respekt. Ich verfolge die Arbeit des Hamburg Ballett schon seit sehr vielen Jahren. Ich liebe diese Kompanie und bin mir bewusst, was für einen Moment in der Tanzgeschichte dieser Wechsel bedeutet. Davon ein Teil zu sein und an der Zukunft der Kompanie, die so wichtige Arbeit geleistet hat, mitwirken zu dürfen, ist eine enorme Ehre. So eine Chance gibt es nur einmal im Leben.

Was waren Ihre ersten Berührungspunkte mit dem Hamburg Ballett?

John Neumeier habe ich schon als Schüler kennengelernt. Als er später im Kammertheater Stuttgart meine Choreografie zu Camille Saint-Saëns’ „Der Karneval der Tiere“ gesehen hatte, war er sehr angetan und lud mich ein, mit der Ballettschule des Hamburg Ballett dieses Stück 2012 zu erarbeiten. Wir werden es in der kommenden Spielzeit auch wieder ins Repertoire aufnehmen und in Hamburg präsentieren.

Demis Volpi: „Meine Muttersprache bleibt der Tanz“

Seine 2023 vom Ballett am Rhein im Opernhaus Düsseldorf uraufgeführte Choreografie „The thing with feathers“ studiert Demis Volpi nun mit dem Hamburg Ballett ein (©Bettina Stöss)

Sie sind in Argentinien geboren und kamen über Canada’s National Ballet School nach Stuttgart, wo Sie 2013 nach Ihrem ersten abendfüllenden Handlungsballett „Krabat“ zum Hauschoreografen ernannt wurden. Am Anfang Ihrer Karriere steht also ein Jugendbuch von Otfried Preußler …

Angefangen zu choreografieren habe ich schon 2006, da war ich zwanzig Jahre alt und habe in Stuttgart mein erstes Pas de deux gemacht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Reaktionen so positiv sein würden und habe bald gemerkt, dass das der Weg für mich ist.

Seit zehn Jahren sind Sie auch als Opernregisseur aktiv …

Ich habe tatsächlich einige Regiearbeiten gemacht. Aber meine Muttersprache bleibt der Tanz, die Choreografie. Deshalb wähle ich bei Anfragen die Opernstoffe sehr genau aus, damit ich auch wirklich einen Zugang zum Material habe.

Welchen Zugang hatten Sie zu „Krabat“, diesem Zauberlehrling, der in den Bannkreis eines dunklen Müllermeisters gerät?

Ich fand es wichtig, jungen Menschen zu zeigen, welche schlimmen Folgen Macht haben kann. Außerdem reizte mich die Möglichkeit, Tanz und Zauberei miteinander zu verbinden. Jedes Tanzstück lebt ja von seinem eigenen Zauber im übertragenen Sinn, aber in „Krabat“ konnten wir ihn auf der Bühne ganz real zeigen.

Welche Fragen wirft ein Stück auf?

Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Stoffe aus?

Beim Handlungsballett gehe ich von der Geschichte aus. Dann beginnen aber auch schon die ersten Fragestellungen und Herausforderungen, weil sich mit dem Tanz konkrete Handlungen anders als in anderen Genres erzählen lassen. Tanz findet ja immer im Moment, in der Gegenwart statt. Dafür kann der Tanz aber besser als jede andere Kunstform innere Zustände nachempfindbar machen. Mit jeder Vorstellung, die sich eine Person anschaut, übt sie Empathie. Das ist eine enorm wichtige Aufgabe, die wir im Theater haben. In abstrakten Stücken wie „Surrogate Cities“, das ich zuletzt in Düsseldorf choreografiert habe, lasse ich mich allein von der Musik leiten.

Als Chefchoreograf des Ballett am Rhein in Düsseldorf/Duisburg haben Sie auch eines der beliebtesten klassischen Ballette, Adolphe Adams „Giselle“, als queere Liebesgeschichte auf die Bühne gebracht. Ging es Ihnen darum, mit Klischees zu brechen?

Mich interessieren keine Klischees, sondern vielmehr, welche Fragen ein Stück aufwirft. In „Giselle“ geht es zunächst um die Identitätskrise von Albrecht, der nicht weiß, welchen Lebensweg er einschlagen soll. Viel spannender finde ich aber die starke Anziehungskraft zwischen Albrechts Verlobter Bathilde und Giselle. Diese Frauen empfinden etwas füreinander, was sie nicht ganz verstehen oder zulassen können, wobei sie im Tanz eine Form von Freiheit für ihre Gefühle entdecken. Bei den Recherchen für die Kreation ist mir bewusst geworden: Es gibt kaum lesbische Ballette.

Tänzerinnen und Tänzer sind extrem kluge Wesen

Demis Volpi

Das Handlungsballett als DNA der Kompanie

Sie haben angekündigt, dass Sie die Hamburger Ballett-Tage weiterführen möchten, und auch eine Nijinsky-Gala wird es in der nächsten Spielzeit wieder geben. Gibt es auch neue Türen, die Sie als Intendant des Hamburg Ballett öffnen möchten?

Ich wünsche mir eine Öffnung der Kompanie in vielerlei Hinsicht: eine Öffnung des Repertoires mit weiteren choreografischen Handschriften und eine Öffnung unserer Arbeitsprozesse, um eine andere Form von Zugänglichkeit zu ermöglichen. Dabei soll die DNA des Hamburg Ballett aber nicht verändert werden. Das Handlungsballett ist etwas, was diese Kompanie wie keine andere im 20. Jahrhundert geprägt hat.

Mit Ihrem ersten großen Tanzabend in Hamburg am 28. September, „The Times Are Racing“, präsentieren Sie neben Balletten von Pina Bausch, Hans van Manen und Justin Peck auch Ihr eigenes, im letzten Jahr uraufgeführtes Stück „The thing with feathers“ …

Mit diesem Stück möchte ich die Abwesenheit von etwas durch Tanz spürbar zu machen. Das kann ein Mensch, eine Situation oder ein Gefühl sein. Als wir das Stück kreierten, haben wir tanzend untersucht, was diese Leere bedeutet und was wir darin finden können? Eine Antwort, die wir mit den Tänzerinnen und Tänzern entdeckt haben, war Hoffnung. Und das war eine sehr besondere Erfahrung, gemeinsam zu spüren, dass auch aus diesem Nichts durch die Begegnung etwas Schönes, Zuversichtliches entstehen kann. Bei „The thing with feathers“ habe ich teilweise zu einer anderen Musik choreografiert als die, die bei der Aufführung zu hören ist, damit wir nicht zu sehr in diese Sehnsucht oder Trauer von Strauss’ „Metamorphosen“ hineingezogen werden.

Brauchen Tänzerinnen und Tänzer nicht auch bei abstrakten Stücken konkrete Vorstellungen, mit denen sie arbeiten können?

Tänzerinnen und Tänzer sind extrem kluge Wesen. Man trifft nirgendwo so sensible, intelligente und aufmerksame Menschen wie in einem Ballettsaal. Sie spüren auch ohne Worte, was ich von ihnen möchte. Bei Stücken mit einer Handlung teile ich aber mit dem Ensemble natürlich das, was ich selber über das Stück erfahren habe und was mich daran interessiert.

Man trifft nirgendwo so sensible, intelligente Menschen wie in einem Ballettsaal

Demis Volpi

John Neumeier: In der Tanzgeschichte einmalig

In Ihrer ersten Spielzeit in Hamburg werden Sie Hermann Hesses „Demian“ als Tanzstück realisieren. Wie bei „Krabat“ handelt es sich hierbei um einen Entwicklungsroman, der das Erwachsenwerden und die Selbstfindung eines jungen Mannes beschreibt. Warum interessieren Sie Stoffe über Menschen, die ihren festen Platz im Leben noch nicht gefunden haben?

Erzählt wird die Geschichte von Emil Sinclair, der in Demian einen Freund findet, der ihn zum kritischen Hinterfragen und eigenständigen Denken auffordert. Hesses Art, über Gut und Böse zu schreiben und dass diese beiden Seiten im Leben immer zusammengehören, finde ich großartig. Plötzlich steht Emil Sinclair mitten im Krieg, den er nicht hat kommen sehen. Das ist eine wichtige Botschaft in unserer Zeit, in der man das Gefühl hat, dass wir alle tatenlos zuschauen, wie unsere Welt sich beängstigend verändert. Mit gefällt auch, dass das ganze Narrativ an einem Nicht-Ort, im Seelenraum von Emil stattfindet. „Demian“ ist ein sehr surreales Buch, in dem sich Traum und Realität vermischen.

Als neuer Ballettchef werden Sie auch John Neumeiers Erbe weitertragen. Tauschen Sie beide sich noch regelmäßig untereinander aus?

Dieser Austausch ist ein Grund, warum ich diese Position angenommen habe. Alle großen Choreografen waren bis zu ihrem Lebensende im Amt. Es ist in der Tanzgeschichte einmalig, dass jetzt jemand gesagt hat: Ich ziehe mich zurück, die Kompanie muss nun ohne mich weitergehen. John Neumeier und ich stehen aber weiterhin im Dialog. Das macht meine Arbeit so reizvoll und ist natürlich auch eine besondere Herausforderung.

„The Times Are Racing“, 28.9. (Premiere), 29.9. und weitere Termine in der Staatsoper Hamburg

Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 09/2024 erschienen.

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