SZENE HAMBURG: Herr Lorenz, Ihre Initiative setzt sich seit 2018 dafür ein, dass Hamburg einen Ort bekommt, an dem der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt gedacht wird. Was ist das für ein Gefühl, zu wissen, dass dieser Ort nun tatsächlich realisiert wird?
Gottfried Lorenz: Unsere Initiative freut sich, dass der von ihr vorgeschlagene „Denk-Ort sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ kommen wird. Wir sind bei unserem Projekt aus der queeren Community heraus unterstützt worden, von Senat und Bürgerschaft, von SPD und Grünen, CDU und den Linken, von den mit der Umsetzung eines solchen Vorhabens betrauten Behörden und vom Bezirk Hamburg-Mitte. Direkter Ansprechpartner war und ist für uns die Behörde für Kultur und Medien. Senator Dr. Carsten Brosda und Staatsrätin Jana Schiedek begleiteten und fördern unser Projekt engagiert.
Denk-Ort für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Wie ist die Initiative „Denk-Ort für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ damals entstanden?
Im Mai 1985 ist am Rande des Geländes des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme auf Initiative des Vereins Unabhängige Homosexuelle Alternative ein Gedenkstein zur Erinnerung an die homosexuellen Opfer der NS-Zeit eingeweiht worden. 1996 erfolgte eine Neugestaltung. Was aber in Hamburg unserer Ansicht nach fehlte, war eine zentrumsnahe Erinnerungsstätte an die Jahrzehnte der Homosexuellenverfolgung. Nach allerersten Überlegungen hierzu Ende 2015 fand am 6. September 2018 auf Einladung des Inhabers der Contact-Bar in St. Georg (mittlerweile dauerhaft geschlossen, Anm. d. Red.) eine Informationsveranstaltung zu diesem Projekt statt.
Während der Diskussion wurde deutlich, dass ein Homosexuellen-, gar ein Schwulenmahnmal nicht zeitgemäß und somit nicht mehrheitsfähig sei. Stattdessen müsse die Entwicklung von der Lesben und Schwule umfassenden homosexuellen zur queeren Community in Betracht gezogen werden. Dies schlug sich nieder in der Einladung an alle uns seinerzeit bekannten Gruppen der queeren Community zur Gründung der Initiativ-Gruppe „Denk-mal sexuelle Vielfalt“.
Die Gründungsversammlung fand am 27. November 2018 im Magnus-Hirschfeld-Centrum (mhc) statt. FDP, SPD und Grüne unterstützten im Juli beziehungsweise August 2019 durch Anträge unser Projekt in der Hamburgischen Bürgerschaft. Um dem gegenwärtigen Diskurs gerecht zu werden, änderten wir im September 2020 unseren Namen in Initiative „Denk-mal sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“, woraus nach Diskussionen auf einem Werkstatttag Anfang 2021 schließlich die Initiative „Denk-Ort für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ wurde.
Was unterscheidet das geplante Denkmal in Hamburg von den Mahnmälern in anderen Städten, etwa dem „Frankfurter Engel“?
Der von unserer Initiative angestrebte „Denk-Ort“ unterscheidet sich von den Mahn- und Denkmalen anderenorts darin, dass unsere Zielsetzung nicht allein im Rahmen der Erinnerungskultur auf die Vergangenheit ausgerichtet ist, sondern darüber hinaus Gegenwart und Zukunft einschließt. Es geht uns um die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als gegenwärtige und zukünftige Aufgabe. Auch wollen wir daran erinnern, dass das Fehlen dieser Akzeptanz in der Vergangenheit in Deutschland und heute in vielen Ländern zu Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung und zum Tod vieler Menschen, die nicht in das heteronormative Raster passen, geführt hat und noch immer führt. Der Hamburger „Denk-Ort“ schließt niemanden aus, sondern umfasst das gesamte Spektrum der Sexualität und Geschlechtlichkeit.
Der Hamburger ‚Denk-Ort’ schließt niemanden aus
Gottfried Lorenz
Standortwahl: Warum an der Binnenalster?
Warum fiel die Wahl auf den Standort Neuer Jungfernstieg/ Lombardsbrücke?
Die Entscheidung fiel am 6. November 2021 im Museum für Hamburgische Geschichte nach einer ausgiebigen Begehung der drei von der Kulturbehörde vorgeschlagenen möglichen Standorte nahezu einstimmig. Anwesend waren Personen aus zwanzig Gruppen der queeren Community, Senator Dr. Brosda, Staatsrätin Schiedek sowie Behördenvertreterinnen und -vertreter. Über die Gründe für die getroffene Entscheidung nur dies: Ein Blick über die Binnenalster zu Ballindamm, Jungfernstieg und Rathaus – das genügte! Im Gedächtnis geblieben ist mir, dass ich glaubte, zuschauen zu können, wie in den Köpfen der meisten Beteiligten der bisherige Standortfavorit ausgetauscht wurde gegen den Platz an der Binnenalster.
Was war der bisherige Standortfavorit?
Der Spadenteich als Standort des „Denk-Ort“-Projektes galt für die schwule Community lange Zeit als „gesetzt“ – und gerade das stellte sich am Ende als Hindernis heraus. Aus der Idee eines Mahnmals für die Opfer der Homosexuellenverfolgung war längst die Vorstellung eines weit darüber hinausgehenden „Denk-Orts für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ geworden. Ein derartiges Projekt sollte nach Ansicht vieler Beteiligter nicht in einem prononciert „schwulen Stadtteil“ errichtet werden. Ein weiterer Grund lag in der Enge des zur Verfügung stehenden Platzes, dessen Umgestaltung zwar vorgesehen ist, sich aber lange hinziehen wird. Dennoch hatte ich es vor Ort für möglich gehalten, dass sich die Mehrheit der Besichtigungsgruppe für diesen Standort entscheiden könne.
Ein Blick über die Binnenalster – das genügte
Gottfried Lorenz
Waren noch weitere potenzielle Standorte im Rennen?
Die Behörde für Kultur und Medien hat der queeren Community drei repräsentative Standorte vorgeschlagen. Mir hatte der Standort am Buenos-Aires-Kai am meisten zugesagt. Zum einen ist er homosexuellen-historisch unbelastet und konnte deswegen nicht zu Auseinandersetzungen in der queeren Community führen, zum anderen sah ich darin eine Chance, in der HafenCity die Grundlage für eine neue Tradition zu legen. Außerdem hätte ein „Denk-Ort“ an dieser Stelle recht schnell entstehen können und ist durch U- und S-Bahn und selbst zu Fuß vom Hamburger Hauptbahnhof aus rasch zu erreichen. Dieser Argumentation konnten bei einer Probeabstimmung aber nur wenige Anwesende folgen.
Kunstwettbewerb: Entscheidung am 1. August 2024
Am zukünftigen Platz des „Denk-Orts“ am Neuen Jungfernstieg steht mit der Skulptur „Windsbraut“ des Bildhauers Hans Martin Ruwoldt bereits ein Kunstwerk. Sollte dieses Ihrer Meinung nach lieber versetzt oder in einen neuen künstlerischen Entwurf einbezogen werden?
Vorstellbar ist vieles. Entscheiden werden das diejenigen, die sich am ausgeschriebenen Kunstwettbewerb beteiligen, und anschließend das Preisgericht des Künstlerischen Wettbewerbs zum „Denk-Ort sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“, das unmittelbar vor Weihnachten 2023 berufen wurde. Dieses Preisgericht ist paritätisch besetzt aus der queeren Community, der Kunstkommission Hamburg und den Hamburger Behörden.
Jetzt sind wir neugierig – wann wird der finale Sieger des Wettbewerbs feststehen?
Beschlossen wurde eine Veranstaltung für die Community am 1. August 2024 im Museum für Hamburgische Geschichte, in der entschieden werden soll, welcher der beiden preisgekrönten künstlerischen Vorschläge umgesetzt werden soll. Die Kulturbehörde legt viel Wert darauf, dass die Entscheidung über den Denkort von der queeren Community basisdemokratisch legitimiert wird.
Es geht uns um die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als gegenwärtige und zukünftige Aufgabe
Gottfried Lorenz
An der Konzeption des „Denk-Orts“ waren 40 verschiedene Organisationen aus LGBTQIA+-Communitys beteiligt. Wie funktionierte die Zusammenarbeit in den Workshops?
Die queere Community war seit der Gründung der Denk-Ort-Initiative in den Entscheidungsprozess eingebunden. So umfasste beispielsweise die Einladungsliste zur Ortsbegehung 36 Gruppierungen, Vereine und Initiativen, von denen am 6. November 2021 zwanzig vertreten waren. Zum Entscheidungsprozess im Museum für Hamburgische Geschichte hatten sich 37 Personen angemeldet, 34 nahmen an der Abstimmung teil.
Gab es bei so vielen verschiedenen Positionen Uneinigkeiten?
Die Zusammenarbeit in den Workshops war der Sache verpflichtet. Die Meinungen gingen oft auseinander, doch konnte man sich stets auf Positionen einigen, die weitestgehend mehrheitsfähig waren. Nur eine Gruppierung, die sich beim Werkstatt-Tag nicht ausreichend repräsentiert sah und deswegen lautstark protestierte, hat später alle privaten Gesprächsangebote und offiziellen Einladungen ausgeschlagen. Für Ortsbegehung und Standortfindung war Jens Ehebrecht-Zumsande als Mediator gewonnen worden. Bisher sind alle Entscheidungen einmütig gefällt worden, Auseinandersetzungen wie anderenorts hat es in Hamburg nicht gegeben.
„Wir werden die Realisierung gebührend feiern“
Wann rechnet die Initiative mit der Einweihung des „Denk-Orts“?
Projekte wie der „Denk-Ort für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ benötigen Zeit, langen Atem und Geduld. Die Corona-Krise hat uns zurückgeworfen und bei einigen Enttäuschung hervorgerufen. Doch war das Projekt weder von uns noch von Seiten der politisch Verantwortlichen infrage gestellt worden. Vielleicht kann der „Denk-Ort“ zehn Jahre nach den ersten Überlegungen zu einem Homosexuellendenkmal und 40 Jahre nach der Gedenktafel in Neuengamme Wirklichkeit sein – und das wäre im Jahr 2025.
Und nach der Realisierung? Setzt sich die Initiative dann zur Ruhe?
Oh nein! Wir werden die Realisierung gebührend feiern und anschließend die Gestaltung des benachbarten Binnenalster-Ufer-Grundstücks beobachtend begleiten. Ich arbeite im Augenblick außerdem parallel an mehreren Projekten und kuratiere zwei Ausstellungen. Anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Vereins MSC Hamburg ist die Ausstellung „Lederkunst“ noch bis zum 14. August 2024 in der Boutique Bizarre an der Reeperbahn zu sehen. Im Hanseatischen Oberlandesgericht kann seit Mitte Juli außerdem die Ausstellung „Liberales Hamburg? Vom Ende der Homosexuellenverfolgung zum Selbstbestimmungsrecht“ besichtigt werden. Sie läuft bis zum 9. August.
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 08/24 erschienen.