Ein Text aus unserer Titel-Serie „Ach Kiez. Zwischen Abscheu & Liebe“, erschienen in der SZENE HAMBURG, August 2017.
Warum ich hier bin? Mein zukünftiger Schwager ist dafür verantwortlich. Er hat entschieden, mich nach allen Regeln der Kunst zu ruinieren. Dafür hat er sich ordentlich ins Zeug gelegt und eben auch diese Reise für mich und meine Jungs gebucht. Dass wir Engländer für Junggesellenabschiede nach Deutschland kommen, ist übrigens ziemlich gängig.
Die G20 sind in der Stadt, da dürfen wir ja wohl nicht fehlen!
Wir lieben die deutsche Kultur, vor allem hier auf dem Kiez. Hier dreht sich alles nur um Pubs und Clubs – genau wie bei uns (lacht). Und dass wir gerade an diesem Wochenende nach Hamburg gekommen sind, ist auch kein Zufall.
Die G20 sind in der Stadt, da dürfen wir ja wohl nicht fehlen! Wir haben ganz klare Ziele für diese Tage: Wir schießen uns so sehr ab, dass wir wegen irgendeinem Quatsch in der Zelle landen! Tonys Vater mischt sich ein: „Natürlich nicht! Wir respektieren die deutschen Gesetze und halten uns daran.“ Mein Dad passt immer auf uns auf. Und wenn wir doch in den Knast kommen, dann alle zusammen. Hier tanzt keiner aus der Reihe. Was auch immer passiert: Wir geben Vollgas bis Sonntagabend. Wir brauchen keine Pausen, ruhen uns bestimmt nicht aus. Das würde hier auch gar keinen Sinn machen.
Protokoll: Erik Brandt-Höge
Kommentar
Junggesellenabschiede gehören zum Kiez wie Schnaps und Sex. Muss das sein? Muss es, findet unser Autor
Er ist rosarot und riesig, ein Gigant geradezu. Mit scheinbar letztem Schwung schleppt er sich zur U-Bahn-Station, die Augen noch weit aufgerissen, vor Scham oder Euphorie oder Schreck oder allem zusammen. Sein Körper steckt in einem Mix aus hier und da bereits aufgeplatzter Gummimasse, Wattebäuschchen und braunen Wollfäden.
Er ist ein XXL-Penis. Ein Superding. Megaschwanz. Ich schätze ihn auf Mitte 30. Sind ja meistens so alt, die Junggesellen, die bald keine Junggesellen mehr sind, und die eben deshalb mit ihren Freunden am Wochenende über den Kiez schwanken, sich bestenfalls nur kurz abschießen, ein paar Faxen machen und friedlich zurück aufs Dorf fahren, schlimmstenfalls zum Fremdschamvorfall für ein ganzes Viertel werden.
Jedenfalls: der Penis. Der hat es geschafft, geht die Treppen runter, verschwindet im Dunkeln. Es ist 8 Uhr morgens, ich bin auf dem Weg zur Arbeit, und ich denke:
Muss das sein? Ist das nicht einfach nur ultraüberflüssig? Wäre der Kiez nicht viel schöner ohne das Junggesellenabschieds-Trara? Wäre es nicht buchstäblich eine Befreiung, die Bekloppten aus dem Münsteraner, Bielefelder, Osnabrücker, Lübecker und sonstigem Umland einfach nicht mehr einreisen zu lassen? Und dann denke ich: nein. Wäre es nicht.
Überhaupt nicht. Denn: Weniger Bekloppte bedeutet für den Kiez, auch weniger bekloppt zu sein. Weniger absurd. Weniger wild. Der Teil Hamburgs, der wie kein anderer für Vielfalt und Freiheit steht, würde Zensur betreiben. Das kann keiner wollen. Niemand hat die Absicht, eine Kiezmauer zu errichten! Support your local Junggesellenabschied, denke ich und will gerade weitergehen, als der Penis die Treppe wieder hoch kommt.
Er ist zurück, und er bleibt vor mir stehen. „Ich bin ein Penis. Fass mich an!“, sagt er, und ich befürchte, dass es nicht das erste Mal ist an diesem Abend, dass er den Satz einem Fremden gegenüber bringt. Ich streichele ihm kurz über die Eichel. „Danke“, sagt er, „bis denn.“ Und dreht ab.
Erik Brandt-Höge