SZENE HAMBURG: Kerstin und Michael, wie kommt der Deutsche Alpenverein an die Elbe?
Michael Hennigfeld: Wir sind ein großer Verein. Wir haben unter anderem Kletternde, Wandernde, Mountainbikende. Wir haben auch Felsen nicht allzu weit entfernt. Es gibt den Ith, den Harz – hier kann man vieles machen.
Was unterscheidet inklusives Klettern von anderen Klettergruppen?
Kerstin Krüger: Wie haben Teilnehmende mit Einschränkungen unterschiedlicher Art, körperlich wie psychisch. Manche kommen aus einer psychiatrischen Tagesklinik, in der ich arbeite. Aufgrund meiner beruflichen Ausrichtung kann ich auf die einzelnen Krankheitsformen im seelischen Bereich besonders Rücksicht nehmen.
Michael Hennigfeld: Der Unterschied ist nur graduell. Jede Person hat eine Behinderung. Wenn ich dich jetzt bitten würde, mit mir in die Kletterhalle zu gehen, möchte ich mal sehen, nach wie vielen Metern du sagst: „Ich kann nicht mehr“ oder „Es ist mir zu hoch“. Wir haben eine Ausbildung, die uns hilft, in unseren inklusiven Klettergruppen jede teilnehmende Person dabei zu unterstützen, so weit zu klettern, wie er oder sie möchte.
Kerstin Krüger: Uns zeichnet aus, dass wir nicht den Leistungsanspruch haben. Wir wollen Spaß haben, persönliche Grenzen kennenlernen und über sie hinauswachsen, um dadurch den eigenen Selbstwert zu steigern. Wir achten darauf, zu sagen: „Achte auf dich.“ Wenn du drei Meter Höhe bei einer maximalen Wandhöhe von 15 Metern kletterst, ist das dein heutiges Oben – egal wie die anderen klettern.
Das Klettern schafft Selbstbewusstsein und lehrt Teamwork
Michael Hennigfeld
Vom Klettern profitieren alle
Wie seid ihr auf die Idee gekommen?
Michael Hennigfeld: Wir haben die erste Gruppe vor sechs Jahren gegründet, sehr spontan. Ein Kumpel von mir aus dem Vorstand, hat mich gebeten, mit zur Inklusionssitzung zu kommen. Ich habe während meines Studiums als Nebenjob mit schwerstbehinderten Kindern im Krankenhaus Alsterdorf zusammengearbeitet. Da hatte ich Lust, hier zusammen mit anderen so eine Gruppe zu gründen.
Kerstin Krüger: Der Verein hat eine Inklusionsausbildung für Menschen mit Behinderungen angeboten. Einige von uns haben die Ausbildung absolviert und sind jetzt befähigt, Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen zu trainieren, zu begleiten. Manchmal ist es nicht so einfach. Wenn die Teilnehmenden seheingeschränkt sind, ist es wichtig, sie sprachlich zu begleiten. Zum Beispiel unterstützen wir verbal das Klettern, indem wir sagen: „Dein nächster Griff befindet sich auf 11 Uhr.“
Wie profitieren die Teilnehmenden?
Michael Hennigfeld: Jede Person profitiert, wenn sie klettert. Egal, wer. Das Klettern schafft Selbstbewusstsein und lehrt Teamwork. Du gibst dein Leben in die Hand einer anderen Person. Das hat mit Vertrauen zu tun, aber auch mit Verantwortungsgefühl. Diejenige Person, die eine andere sichert, hat die Verantwortung. Ein sehr, sehr toller Sport, weil nicht nur deine körperlichen Fähigkeiten gestärkt werden.
Kerstin Krüger: Menschen, die im psychiatrischen Bereich Schwierigkeiten haben, grübeln viel. Beim Klettern sagen sie: „Ich bin im Hier und Jetzt. Ich konnte nicht über meine Probleme nachdenken.“ Das ist wirklich nicht möglich, wenn du die Route hochgehst. Du bist mit deinem Körper und deiner Bewegung beschäftigt. Und dann ist es wirklich die Gemeinschaft. Das ist für einige das Highlight der Woche. Ich habe eine Gruppe, mit der ich gemeinsam etwas unternehme. Wir klönen und machen Ausfahrten in den Ith im Weserbergland.
Helfen die Erfahrungen beim Klettern im Alltag?
Kerstin Krüger: Ich sage häufig: „Mal anhalten und überlegen, wie ich das jetzt mache. Auch mal einen Schritt zurückgehen.“ Und in der Therapie in der Klinik arbeite ich das auf: „Genau, ich muss nicht alles schaffen.“ Ich kann sagen: „Das war nicht gut, jetzt geh ich mal einen Schritt zurück.“ So ist es im wirklichen Leben auch. Mir passiert ja nichts, wenn ich das mache. Das nehmen meine Klienten als Bild mit.
Michael Hennigfeld: Viele Teilnehmende, die von Anfang an dabei sind, haben eine enorme Entwicklung mitgemacht. Motorisch, psychisch – du kannst es dir gar nicht vorstellen. Manche Eltern oder auch sie selbst sagen, dass sie vom Klettern profitieren.
Mut und Vertrauen fassen
Was sind die größten Herausforderungen für die Teilnehmenden?
Michael Hennigfeld: Was wäre für dich die größte Herausforderung? Nehmen wir mal an, ich lasse dich jetzt klettern. Jetzt bin ich aber gespannt. Hast du Höhenangst?
Neuerdings ja. Ist mir kürzlich beim Einschrauben einer Glühbirne auf der Leiter zum ersten Mal aufgefallen. Angst hätte ich auch vor der Anstrengung.
Kerstin Krüger: Die größte Herausforderung ist das Vertrauen in sich selbst. Oft gibt es zu Beginn Sätze wie, „Das schaff ich nie“, „So viel Kraft habe ich nicht“ oder „Wie soll das denn gehen? Das kann ich doch gar nicht“.
Michael Hennigfeld: Wenn ich dich das erste Mal bitten würde: Setz dich ins Seil. Und wenn du dann zehn Meter über dem Boden bist, einfach loslässt – das ist schon eine Nummer. Das geht jedem und jeder so. Auch meine Jugendlichen sagen manchmal: Ab jetzt reicht’s. Das ist ganz normal.
Was sind die größten Herausforderungen für euch?
Michael Hennigfeld: Die Organisation und die Ressourcen. Klar würden wir uns wünschen, dass noch viel mehr entsteht, dass wir zum Beispiel noch mehr Personen mit Einschränkungen betreuen können. Solche Dinge sind die Herausforderung.
Kerstin Krüger: Ich habe Dienstag eine neue Teilnehmerin gehabt. Sie war zu Beginn verhalten, ängstlich, kam aus einer teilstationären Klinik, in der sie sich gerade behandeln lässt. Meine Herausforderung ist, dass ich den Teilnehmenden Lust und Vertrauen gebe. Dass sie nicht sagen: Das kann ich nicht. Dass jede Person, die zu uns kommt, selbst entscheidet: Das könnte ein Sport für mich sein oder nicht. Aber dass wir es schaffen, ihnen den Mut zu geben, dass es jeder und jede kann.
Ich hatte einen jungen Mann mit einer Halbseitenlähmung, bei dem ich mir dachte: „Hoffentlich schafft er ein, zwei Meter und fällt nicht aus der Wand und ist frustriert.“ Er ist bis ganz oben geklettert. Toll! Dann ist die Herausforderung, dass wir genügend Trainer und Trainerinnen sind, die mitklettern und supporten können. Dreimal dürfen die Menschen zum Probeklettern kommen, nach dem dritten Mal müssten sie in den Verein eintreten und sind fest in der Gruppe.
Meine Herausforderung ist, dass ich den Teilnehmenden Lust und Vertrauen gebe
Kerstin Krüger
Unterstützung gerne genommen
Sucht ihr Trainerinnen und Trainer?
Michael Hennigfeld: Es geht vor allem um engagierte Menschen. Wenn ich Kurse gebe und solche Leute kennenlerne, versuche ich sie zu begeistern. Einige von ihnen unterstützen jetzt hier als Helfende oder als Trainer und Trainerinnen. Das Engagement ist wichtig.
Kerstin Krüger: Unterstützung ist immer willkommen. Wir sind drei Trainer und Trainerinnen im Stamm, mal wird jemand krank oder ist im Urlaub und dann verbindlich da zu sein, ist schon eine Herausforderung. Selten mussten wir die Gruppe ausfallen lassen, letztes Jahr dreimal. Manchmal gibt es Tage, an denen ich nach der Arbeit ziemlich erschöpft bin. Ich werde aber nach der Gruppe mit guter Laune belohnt. Wir gehen immer mit einem Lächeln raus.
Entstehen Freundschaften mit den Teilnehmenden?
Kerstin Krüger: Wir kennen uns mittlerweile schon lange und unterhalten uns auch über den Alltag und was jede Person so bewegt und erlebt.
Michael Hennigfeld: Wir sind eine tolle Gemeinschaft und freuen uns jede Woche darauf, miteinander zu klettern.
Können Menschen mit und ohne Handicap gemeinsam klettern?
Michael Hennigfeld: Das ist der Sinn. Oft sage ich: „Jetzt tauscht mal untereinander.“ Und das machen sie dann auch gerne. Jede Person klettert mit jedem und jeder.
Kerstin Krüger: Zwei meiner Teilnehmenden haben ihre Partner mitgebracht und üben jetzt diesen Sport zusammen aus. Das ist total schön, dass die vier ein gemeinsames Hobby gefunden haben. Ein Paar hat Nachwuchs bekommen und setzt jetzt erst einmal aus. Wir hoffen, dass sie im Sommer zu dritt wiederkommen.
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 03/2024 erschienen.