Herbert Fritschs Inszenieren polarisieren, auch die Theaterredaktion: Schrill und spritzig, großartiges Ensemble, schräges Bühnenbild lautet das Urteil für einige von uns, andere setzten „Die Kassette“ auf die Liste der größten Saison-Enttäuschungen…
„Kindertheater!“, schnauzt ein Premierengast beim Hinausgehen. Hatte er noch nie ein Stück von Herbert Fritsch gesehen? Er ist der Humorpapst, Berlin jedenfalls hat er richtig zum Lachen gebracht, Hamburg bereitet dem Regisseur, Schauspieler und Autor Schwierigkeiten, zumindest mit „Die Kassette“.
Es könnte daran liegen, dass die Schauspieler weiter hinten im Saal schwer zu verstehen sind. Und das ist eine Schande, denn die Dialoge sind irrwitzig, von messerscharfer Boshaftigkeit. Die temporeich rausgefeuerten Texte nur halb zu hören, bedeutet die völlig überdrehten Darsteller lediglich zucken zu sehen. Allein das ist schon ein amüsanter Anblick, aber nur der halbe Spaß. Denn der Autor Carl Sternheim rührt aufs Herrlichste in der „Kloake sittlicher Verkommenheit“, wie es in dem Stück heißt. Mit „Die Kassette“ demonstriert er den Verfall des entmenschlichten Bildungsbürgertums im wilhelminischen Zeitalter. Was passt da besser als überschminkte Gesichter, Kostüme, grell in Schnitt und Farbe und groteskes Gehabe – und wer könnte das besser inszenieren als Herbert Fritsch?
Der alternde Oberlehrer Krull (Götz Schubert) hat gerade die junge, schöne Fanny (Karoline Bär) geheiratet. Doch alsbald stellt er fest, dass die in die Jahre gekommene Tante noch viel attraktiver ist, weil sie eine Kassette voller Wertpapiere besitzt. Dieser Reichtum lockt auch den schleimigen Künstler Seidenschnur an, brillant gespielt von Boy-Gobert-Preisträger Bastian Reiber. Eitel bis zur Ohnmacht tänzelt er sich in die Familie, und geht auf die Anmache von Krulls Tochter ein, die von Gala Othero Winter
wundervoll mental lädiert gespielt wird.
Die Kassette selbst bleibt unsichtbar, der ganze Reigen dreht sich um das Nichts. Auch das Bühnenbild kommt mit wenigen, den Slapstick fördernden Requisiten aus. Mehr braucht es auch nicht: die Darsteller laufen zur Höchstform auf, Ingo Günther begleitet das Geschehen außerordentlich schräge am Flügel. Zum Schlussapplaus bei der Premiere steigt Herbert Fritsch aus dem Kamin, eine Konfettikanone explodiert – doch so stark wie sein Auftritt ist am Ende der Jubel nicht.
/ Kritik von Lisa Scheide erschienen 11/2015 in SZENE HAMBURG
Schauspielhaus, Premiere: 3.10.2015
Fotos: Thomas Aurin