An seinen ersten Drachenflug in den Teutoburger Wald kann sich Helmut Wilms (67) genau erinnern. „Ich flog fünfeineinhalb Stunden, aus den Wolken kamen schon Eiskristalle. Als ich auf einem Feld gelandet bin, kam ein kleiner Jungs angelaufen und rief ,Opa, der Mann ist mit einem Drachen da. Darf er dabei sein?‘“. Prompt war Wilms spontan zu einer Konfirmation eingeladen. Wilms’ ruhige Stimme wird quicklebendig beim Erzählen. „Damals, da war das Fliegen für mich vor allem Abenteuerlust“, sagt er. Im italienischen Aviano flog er zum ersten Mal über Land. 50 Kilometer, einfach mal schauen, was es zu sehen gibt. Nach faszinierenden Ausblicken auf türkisfarbene Seen und kleine Gemeinden kam er ganz einfach wieder zurück. „Ich bin getrampt und mit der Bahn gefahren und mir fiel vor Freude die Kinnlade runter, als mir klar wurde, dass ich diese ganze Gegend soeben von hoch oben erlebt hatte“, so Wilms.
Wilms ist das wohl bekannteste Mitglied im Hamburger Verein für Drachen- und Gleitschirmflieger. Der Club hat circa 80 Mitglieder und wurde 1981 gegründet. In den Lüften hat Wilms nicht nur eine Menge erlebt, er hat auch Titel eingeheimst. Dreimaliger Seniorenweltmeister im Streckenfliegen darf er sich nennen. An einer Teilnahme im deutschen Nationalteam schrammte er nur knapp vorbei.
Je höher wir steigen und je mehr Platz wir haben, umso besser ist es für uns.
Gaby Urban
Wenngleich Wilms unter anderem aus gesundheitlichen Gründen seine Karriere vor Kurzem beendet hat, so kann wohl kaum jemand mehr über das Drachenfliegen erzählen als Wilms. „Der Drachenflug ist der einzige vogelähnliche Flug, den es gibt. Das bedeutet, wir fliegen wie alle Vögel im Liegen auf dem Bauch“, erklärt Wilms. Für einen Hamburger Verein, der über Zugang zu einem Übungshang in Neugraben-Fischbek sowie zu zwei Schleppgeländen in Hörpel und Neustadt-Glewe verfügt, ist die Ausübung des Hobbys Drachenfliegen etwas schwieriger. „Wir können ja nicht auf die Alpen hochfahren und von dort in die Tiefe losfliegen. Wir müssen uns selber in die Luft bringen“, sagt Wilms. Was bei einer inklusive Drachen bis zu 50 Kilo schweren Ausrüstung gar nicht so einfach ist.
Auf der Suche nach der Thermik
Die Prozedur funktioniert auf den ersten Blick ähnlich wie bei den Segelfliegern. Es existiert ein Startleiter und eine Schleppwinde, durch deren Anziehen der Drachenflieger abhebt und danach das Seil kappt, um alleine weiterzufliegen. Gesucht wird die beste Thermik. Tiere wie beispielsweise Adler, die Experten auf diesem Gebiet sind, können zur Orientierung dienen. Doch anders als bei den Segelfliegern steuert der Drachenflieger seinen Drachen selbst und hat eine noch unmittelbarere Verbindung zur Natur und ihren Elementen. „Die Steuerung geschieht durch die Verlagerung des Gewichts auf eine entsprechende Seite“, erklärt Wilms. „Wichtig ist es auch, sich angemessen anzuziehen, da es mit ansteigender Höhe recht kalt werden kann.“ Die Faustregel lautet plus hundert Meter Höhe gleich minus ein Grad.
Man kann auch mit 60 Jahren noch beginnen
Helmut Wilms
„Die Höhe ist unser Freund“, sagt Gaby Urban (64) dazu. Sie steht stellvertretend für den anderen Teil des Vereins. Urban ist mit dem Gleitschirm unterwegs – und auch noch aktiv. „Ich habe 1985 eine Woche lang Fallschirmspringen ausprobiert. Das hat mir riesige Freude gemacht und ich wollte etwas finden, bei dem ich länger über der Landschaft schweben konnte. Ich bin viel in den Bergen geflogen und wurde nahezu süchtig danach.“ Doch was meint Urban mit der Höhe als Freund? „Die meisten Unfälle passieren in Bodennähe. Je höher wir steigen und je mehr Platz wir haben, umso besser ist es für uns.“
Bis zu 100 Kilometer pro Stunde
Urban berichtet von dem theoretischen Wissen, welches Gleitschirmflieger genau wie Drachenflieger benötigen. Sie müssen das Wetter schon vor dem Start gut einschätzen können. Dazu gehört auch, den Regenradar und Satellitenbilder studieren zu können. Ferner müssen sie das sogenannte „Groundhandling“, also die Bedienung des Gleitschirms am Boden, erlernen. Doch anders als die Drachenflieger sitzen die Flieger im Gleitschirm in ihrem Gurtzeug, ihre Position ist also auf den ersten Blick die bequemere. „Anfang der 2000er nahm ich viel an den vom Deutschen Hängegleiterverband ausgerichteten Lady-Challenges teil“, so Urban. Sie flog auch bei den German Flatlands, die sich in Berlin etablierten und bis heute ausgetragen werden. Bestimmte Wegpunkte bis zum Ziel sollen abgeflogen werden, der Wettbewerb erstreckt sich über mehrere Tage. „Ich bin sogar schon in Australien und den USA an der Küste entlanggeflogen. Das waren wunderbare Einblicke in die Natur dort. Ich bin auch eine Liebhaberin der Dünen in Dänemark“, sagt Urban. Von unterschiedlichen Schirmen und Materialien berichten sowohl Wilms als auch Urban. Die Möglichkeiten sind hier enorm, ebenso wie die Geschwindigkeiten. Ein Drachenflieger kann in der Spitze sogar auf bis zu 100 Kilometer pro Stunde kommen. Doch eine entscheidende Frage lautet: Können diese beiden Sportarten einfach so betrieben werden? Beide bestätigen, jeder könne starten. „Man kann auch mit 60 Jahren noch beginnen“, so Wilms.
Die Sehnsucht danach, wie ein Vogel frei in den Lüften zu sein, ist ungebrochen da.
Stephan May
Sehnsucht nach Freiheit
Der Mann, der dem Hamburger Verein für Drachen- und Gleitschirmflieger als Vorsitzender vorsteht, ist Stephan May (64). Der Mitgliedsbeitrag seines Clubs liegt bei 120 Euro im Jahr, dafür bietet der HDGF einiges. So bildet er in einer Flugschule Drachenpiloten aus, bietet auch Ausbildungen zum Windenfahrer an. Auch Kontakt zu einer Gleitschirmflugschule verschafft der Club, da jeder Drachen- oder Gleitschirmpilot in Deutschland einen staatlichen Luftfahrtschein benötigt. Durch eine Gästeflugregelung wiederum können auch Interessierte einfach mal reinschnuppern und zahlen dabei maximal 45 Euro pro Tag, wenn sie drei Flüge mitmachen. Zum Beispiel im Doppelsitzerdrachen, wo sie in Bauchlage mit einem erfahrenen Piloten zusammen fliegen können.
„Das Thema Fliegen ist so alt wie die Menschheit. Die Sehnsucht danach, wie ein Vogel frei in den Lüften zu sein, ist ungebrochen da“, sagt May. „Der Deutsche Hängegleiterverband hat immerhin 40.000 Mitglieder. Und für unsere Mitglieder ist es nach wie vor so: Die Wettbewerbe sind schön, aber die familiäre Atmosphäre im Club und das Genießen der Unbeschwertheit in der Luft noch viel schöner.“ May fliegt noch, ebenso wie Gaby Urban. Sie wollen es tun, so lange es ihnen möglich ist.