„Für mich gibt es ein Leben bis zum 24. Februar 2022 und eines nach dem 24. Februar 2022“, sagt Lilia Ketler. Sie stammt aus Saporischschja in der Ukraine, dem Ort, in dessen Nähe das größte Atomkraftwerk Europas steht und von dem die Frontlinie im Februar 2023 rund 40 Kilometer entfernt ist. Seit 1999 lebt Lilia in Hamburg und engagiert sich seit der Gründung im Jahr 2011 bei Feine Ukraine, dem Verein der deutsch-ukrainischen Zusammenarbeit.
Seit 2014, als Russland die Krim annektierte und der Krieg im Donbas begann, kümmert sich der Verein vor allem um im Krieg verletzte Soldaten aus der Ukraine, begleitet diese und hilft mit Übersetzung. „Die haben uns im Februar 2022 schon vorgewarnt, dass da etwas passiert“, sagt Lilia und erinnert sich noch genau an den Morgen vor einem Jahr. „Ich bin um 5 Uhr morgens aufgewacht, weil mein Handy ständig vibriert hat. Da kamen Nachrichten von Freunden und Verwandten aus der Ukraine, dass sie gerade bombardiert werden. An diesem Tag ist für mich der schlimmste Albtraum wahr geworden.“
„Die Hilfe ist koordinierter geworden“
Seitdem kümmern sich bei Feine Ukraine sie und die anderen rund 170 Ehrenamtlichen um Hilfe für die Ukraine. Eine von ihnen ist Svitlana Stamer. Die Ukrainerin lebt seit 2001 in Hamburg und kommt ursprünglich aus der Region um Kyiv. „Nach den ersten Nachrichten am 24. Februar 2022, war ich erst mal wie gelähmt. Ich habe eine Woche mit dem Handy in der Hand im Schlafanzug zu Hause verbracht“, erzählt sie. „Doch dann habe ich mit den anderen angefangen, Kleider, Essen, Medikamente, einfach alles, was gebraucht wurde, zu sammeln.“
Zu Beginn seien sie förmlich mit Spenden überschüttet worden, hätten teilweise komplette Büros vollgepackt. „Das war zu Anfang alles ein großes Chaos und jeder hat irgendwas gemacht“, sagt Svitlana. Mit der Zeit sei dann mehr und mehr Struktur entstanden und „die Hilfe ist koordinierter geworden. Heute bekommen wir zum Beispiel gezielt Anfragen für Kleidung, Helme, Generatoren oder Schutzwesten und können dann dafür sorgen, dass die Dinge zielgerichtet ins Land gebracht werden.“
Seit März 2022 operiert der Verein aus dem Verwaltungsgebäude der Deutschen Telekom in der City Nord. „Die haben uns damals schnell und unbürokratisch Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Für diese Geste sind wir bis heute dankbar“, sagt Lilia Ketler.
Der Nachbar Russland
Mit Beginn des Einmarsches hat sich auch das Verhältnis der in Hamburg lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer zum einstigen Nachbarland noch mal verändert. Zwar gebe es auch viele Ehrenamtliche in Hamburg, die aus Russland stammten und sich bis heute sehr aktiv in der Ukrainehilfe engagierten. Das sind „jedoch die Menschen, die nach Hamburg gekommen sind und die demokratischen Werte, Normen und Gesetze in dieser multikulturellen Stadt akzeptieren“, sagt Lilia. „Wenn jemand aber hier lebt und sagt: ‚Mein Präsident ist Putin und ich verstehe Russland und glaube, alles, was gerade passiert, ist richtig.‘ Dann verstehe ich diesen Menschen nicht.“ Doch „zu wissen, dass Menschen, die aus Russland stammen, vielleicht Verwandte und Bekannte haben, die an der Front kämpfen, ukrainische Kinder töten und Frauen vergewaltigen … Das ist kein gutes Gefühl.“
Dankbar und zerrissen
Neben Lilia und Svitlana engagieren sich mittlerweile auch viele Geflüchtete bei Feine Ukraine, so auch Olga Zakharchenko und Tetiana Nazarenko. Olga stammt aus Kyiv und ist im März 2022 mit ihren beiden Kindern nach Hamburg geflüchtet. Tetiana hat ihre Wurzeln in Donezk, dem Zentrum des schon seit 2014 umkämpften Donbas. Sie lebte zuletzt bei ihrem Sohn in Odesa und ist im Juli 2022 nach Hamburg gekommen. „Ich bin sehr dankbar, dass Deutschland mich aufgenommen hat“, sagt Tetiana und Olga ergänzt: „Auch ich fühle mich in Hamburg sehr wohl, ich mag die Sprache und möchte mir hier etwas aufbauen.“
Beide Frauen haben in der Ukraine als Ingenieurinnen gearbeitet und wollen, wenn sie sich mit der Sprache sicherer fühlen, auch hier wieder in ihrem alten Beruf arbeiten. „Ich habe mein ganzes Leben für mich selbst gesorgt“, sagt Tetiana „ich fühle mich nicht wohl damit, jetzt von Sozialhilfe zu leben. Ich möchte wieder auf meinen eigenen Beinen stehen.“ Dabei geht der Blick auch in die Zukunft: „Für uns ist es wichtig, in Deutschland eine gute Ausbildung zu bekommen und die Sprache zu lernen. So können wir beim Wiederaufbau bestmöglich helfen.“
Auch wenn sie jetzt an Wiederaufbau denken, sind sie alle aktuell mehr als 1000 Kilometer von der Heimat entfernt. „Vor dem Krieg wollte ich eigentlich wieder zurückziehen. Die Sachen waren schon gepackt, dann kam der Angriff“, sagt Svitlana. „Das ist jetzt ein Jahr her und ich lebe immer noch aus Kisten.“ Sie, Olga und Tetiana zieht es bei einem Kriegsende ziemlich sicher wieder zurück. Aber auch Lilia denkt darüber nach: „Ich lebe seit 1999 in Hamburg und damit länger in Deutschland als in der Ukraine. Ich konnte mir bis vor einem Jahr nie vorstellen, zurückzukehren, doch seit dem 24. Februar 2022 ist das anders.“
Die Frage nach der Zukunft
Aktuell seien Städte wie Odesa vergleichsweise sicher, erzählt Tetiana. Dort arbeiten die Menschen. Das sei im Donbas, wo es zum Teil weder Strom noch Wasser gibt, komplett anders. Trotz der unsicheren Lage glauben die Helfenden von Feine Ukraine an einen Erfolg: „Die Sicherheit, dass wir gewinnen, hatte ich vom ersten Moment an“, sagt Lilia und Olga ergänzt: „Ich glaube, dass die nächsten zwei oder drei Monate am schwierigsten sein werden, aber auch das werden wir schaffen. Es gibt keine Alternative.“
Svitlana blickt unterdessen schon voraus: „Ich wünsche mir natürlich, dass der Krieg schnell und für uns Ukrainer und Ukrainerinnen gut endet, aber man muss auch jetzt schon weiterdenken. Wir müssen aus dem, was gerade passiert, lernen und uns schon heute fragen, was wir in Zukunft ändern müssen: im Zusammenleben oder auch bei Gesetzen“, sagt sie. „Wir dürfen unseren Traum von der Zeit nach dem Krieg nicht nur haben, wir müssen ihn jetzt schon leben.“