„Emilia Galotti“ am Thalia: auf der Suche nach patriarchalen Unterdrückungsmechanismen

Regisseurin Anne Lenk spürt den patriarchalen Unterdrückungsmechanismen in Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ am Hamburger Thalia Theater nach. Maja Schöne übernimmt die beiden tragenden Frauenrollen
Zwei Gesichter: Maja Schöne als Emilia Galotti und Gräfin Orsina (©Krafft Angerer)

SZENE HAMBURG: Anne, mit Molières „Der Menschenfeind“ und Schillers „Maria Stuart“ wurdest du zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Zuletzt hast du Lessings „Minna von Barnhelm“ am Deutschen Theater Berlin inszeniert, jetzt folgt Lessings „Emilia Galotti“ am Thalia Theater. Woher kommt die große Liebe zu den Klassikern?

Anne Lenk: Bei modernen Texten habe ich oft das Gefühl, sie drehen sich zu sehr um meinen eigenen Alltag. Ich suche lieber im Abstrakten nach Dingen, die mir nahe sind. Außerdem tritt in einer Sprache, die eine gewisse Diskurshöhe und Zugespitztheit hat, bei der man das Geformte und Gemachte deutlicher wahrnimmt, das Künstlerische mehr zutage.

Maja, fühlst du dich auch in der alten Sprache wohler?

Maja Schöne: Beides hat seinen Reiz. Ich habe gerade die Eva in „Schande“ nach einem Drehbuch von Ingmar Bergman gespielt. Dort wurde eher Alltagssprache gesprochen. Sich danach mit Lessing zu beschäftigen, finde ich sehr schön, weil man merkt, wie ungeheuer präzise man am Text und seinem Rhythmus arbeiten muss – er hat eine hohe Musikalität und diese Feinheiten in der Sprache gemeinsam zu erkunden, macht große Freude. Ich mag es, mich an dieser vorgegebenen, starken Form zu reiben und abzuarbeiten.

Lenk: Mein Eindruck ist gerade, dass jedes Luftholen und jeder Blick bei Lessing präzise gesetzt werden müssen, weil alles wahnsinnig schnell passiert. Die Figuren kommunizieren schnell, verstehen schnell, wechseln schnell ihren Kurs, damit müssen wir umgehen.

„Emilia Galotti“: viele Themen in einem Stück

Das Stück erzählt von einem Prinzen, der buchstäblich über Leichen geht, um die bürgerliche Emilia für sich zu gewinnen: Er lässt ihren angehenden Ehemann ermorden. Behaltet ihr die übliche Lesart bei, bei der es um das Aufeinanderprallen von feudaler Willkürherrschaft und aufgeklärter bürgerlicher Moral geht?

Schöne: In „Emilia Galotti“ werden viele Themen aufgefächert: die Institution der Ehe, die Sozialisation von Mädchen in einer immer noch patriarchalen Gesellschaft, die Frau als Projektionsfläche männlicher Rollenzuschreibungen. 

Schöne: Ich war beim Lesen von dieser Schlichtheit, Skrupellosigkeit und Willkür der Männer wirklich überrascht, wobei einem das Lachen sofort wieder im Hals stecken bleibt. Auch weil es bei Lessing diesen Temperaturunterschied zwischen der eiskalt geführten Sprache und der Hitze der Gefühlswelt gibt. Den finde ich total faszinierend.

Lenk: Ich denke da an ein gegenwärtiges populistisches Politikszenario. Man sagt ja, dass wir gerade ein neues Zeitalter der Aufklärung durchleben. Wir entdecken viel, überarbeiten unsere Vergangenheit, versuchen aufzuräumen. Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung: den Populismus, der Dinge verschleiern möchte und die Mechanismen der Sprache unterläuft, indem seit Langem gültige Gesetzmäßigkeiten nicht mehr eingehalten werden. Genau das passiert in „Emilia Galotti“.

„Das ist wie ein Teufel, der in immer neuen Kostümen auftaucht“

Regisseurin Anne Lenk

Getötete Frauen als spannendes Motiv?

Am Ende bittet Emilia ihren eigenen Vater, sie zu erstechen, damit sie dem Zugriff des Prinzen entzogen wird und keine Schande über die Familie bringt. Kann man diesen Opfermord heute noch so stehen lassen?

Lenk: Das Stück spielt am Tag von Emilias geplanter Hochzeit. Ich lese aus dem Text aber heraus, dass Emilia weniger erfreut ist über ihren Bräutigam als ihre Eltern. Andererseits ist sie sehr aufgeregt, als sie den Prinzen trifft und merkt, dass sie ein Begehren entwickelt, das mit den gesellschaftlichen Erwartungen nicht vereinbar ist. So kommt sie am Ende dazu, ihren Vater zu bitten, ihr das Leben zu nehmen und sie von der Qual zu befreien, sie selbst zu sein.

Auch ich musste mich zunächst von stereotypen Lesarten frei machen

Maja Schöne

Der Femizid ist ein aktuelles Thema. Fast jeden dritten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet …

Lenk: Interessanterweise werden gerade in Stücken männlicher Autoren häufig unschuldige Frauen getötet. Das scheint ein wahnsinnig spannendes Motiv zu sein, das dann entsprechend stilisiert wird. Das weiße Kleid mit rotem Blut ist dafür ein in unserer Gesellschaft fest verankertes Bild. Wer sich von diesem ästhetisierten Stereotyp anrühren lässt, sollte aber auch fragen, warum diese Frau eigentlich sterben musste.

Patriarchale Strukturen pflanzen sich in solchen Bildern unmerklich fort?

Lenk: Ich glaube, die Problematiken von Unterdrückung sind immer die gleichen, sie manifestieren sich nur unterschiedlich. Damals hat die Frau ein Korsett und hochhackige Schuhe getragen, heute wird beispielsweise operiert. Beides bringt viele körperliche Nachteile mit sich. Das ist wie ein Teufel, der in immer neuen Kostümen auftaucht. Erst denkt man: Ach, wie nett. Dann merkt man, dass es schon wieder eine Falle ist.

Die Trennung der Figuren aufheben

Maja, du spielst nicht nur die Emilia, sondern auch die Gräfin Orsina, die vom Prinzen abservierte Geliebte, die sich an ihm rächt, indem sie ihn als Drahtzieher des Mordes an Emilias zukünftigen Ehemann verrät. Wie fühlst du dich mit dieser Doppelbesetzung?

Schöne: Ich finde es sehr reizvoll, die Trennung dieser beiden erst einmal sehr unterschiedlich wahrgenommenen Figuren aufzuheben. Auch ich musste mich zunächst von stereotypen Lesarten frei machen; und dann sieht man schnell, wie widersprüchlich und komplex beide sind. Das merke ich besonders bei Emilia. Nach außen hin wirkt sie sehr passiv, aber in ihrem Innern gibt es eine hohe Dynamik und ein Tempo, das man erst beim Spiel richtig entdeckt.

Lenk: Ich wollte mit der Doppelbesetzung die Trennung zwischen der Hübschen und der Hässlichen, der Unschuldigen und der Schuldigen auflösen. Diese Trennung wird am Anfang nur durch die Männer – den Maler Conti und den Prinzen – definiert, als sie die Porträtbilder von Emilia und Orsina kommentieren. Beim Lesen hat mich unglaublich geärgert, dass man darauf angewiesen ist zu glauben, was die Männer sagen.

„Emilia Galotti“ am Thalia Theater, Premiere am 1. Juni 2024, weitere Vorstellungen bis zum 2. Juli

Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 06/2024 erschienen.

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