SZENE HAMBURG: Frau Mattes, in „Die Freiheit einer Frau“ spielen sie eine Frau, die nach jahrelangen Demütigungen durch zwei Ehemänner beschließt, ihr Dorf zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Wie haben Sie sich auf diese Rolle vorbereitet?
Eva Mattes. Ich habe erst mal alle Bücher von Édouard Louis gelesen. Außerdem machen wohl alle Frauen Erfahrungen in diese Richtung. Ich denke oft: Ach, jetzt muss ich mich schon wieder emanzipieren. Im Fall von Édouard Louis und seiner Mutter ist es natürlich noch krasser, weil die in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen sind.
Édouard Louis, der viele homophobe Erfahrungen gemacht hat, befreit sich aus diesen Verhältnissen …
Er hat das Gymnasium besucht, danach studiert und ist jetzt einintellektueller Mensch. Hochachtung vor so einem Schritt! Die Mutter folgt ihm quasi, verlässt ihren zweiten Mann und zieht in die Stadt. Aber wirklich heraus aus ihrer Gesellschaftsschicht kommt sie nicht. Sie findet auch schwer Kontakte. Wir wissen ja, dass sich in Städten wie Paris nicht so leicht Beziehungen entwickeln, wenn man von außen dazukommt. Das ist in Berlin anders. Ich lebe in Kreuzberg, da ist die Bevölkerung sehr gemischt.
Ein offener Brief an die Mutter
Man hat Édouard Louis vorgeworfen, dass seine Bücher immer wieder das gleiche Thema behandeln …
Er ist ja noch wahnsinnig jung, nicht einmal dreißig, und hat noch eine große Entwicklung vor sich. Deshalb wird er immer wieder anders auf seine Vergangenheit blicken. Als studierter Soziologe kann er sich auch ein Bild davon machen, warum seine Eltern und die Verhältnisse so sind, wie sie sind.
Er hat offenbar viel aufzuarbeiten …
Er schreibt, dass er in der Schule jeden Tag im gleichen Flur auf die beiden Typen gewartet hat, die ihn dann zusammenschlagen haben. Er wollte nicht im Schulhof verprügelt werden, weil es dort alle anderen mitbekommen hätten. Dabei hat er immer gelächelt, weil er dachte, dann tun die Jungs ihm nicht so weh. Auch vor seiner Mutter hat er immer nur gelächelt. Er wollte nicht, dass sie erkennt, wer er ist und was er für ein Leben führt. Um all diese Erfahrungen zu überwinden, ist harte Arbeit nötig.
Könnte man das Buch als eine Art offenen Brief an die Mutter verstehen?
Ja. Falk Richter hat eine sehr schöne Bühnenfassung geschrieben, die nahe am Buch bleibt. Josefine Israel spielt die junge Mutter und ich die Mutter in der Gegenwart.
„Prosa ist auf der Bühne spannender“
Warum werden immer öfter Prosatexte auf die Bühne geholt? Gibt es keine guten Theaterstücke mehr?
Wahrscheinlich möchte man einfach gute Stoffe erschließen. Ehrlich gesagt, lese ich Texte von Theaterstücken immer erst, wenn ich gebeten werde, darin mitzuspielen. Deshalb kann ich gar nicht beurteilen, ob es zu wenige gute neue Stücke gibt.
Andererseits gibt es Gegenwartsautoren, die auch für die Bühne Prosatexte schreiben wie Elfriede Jelinek. Für Ihre Darstellung der Kirke in der Uraufführung von Jelineks Stück „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ am Deutschen Schauspielhaus haben Sie im letzten Jahr den „Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares“ erhalten.
Auf der Bühne sind diese Texte aber spannender, als wenn man sie nur lesen würde. Bei dieser Produktion habe ich zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, wie man einem Text, der ohne Punkt und Komma und ohne Rollenverteilung geschrieben ist, in ein Stück verwandelt.
Dort spielten Sie ja eine Art Gegenstück zu Ihrer aktuellen Rolle und traten als Zauberin auf, die die Männer in Schweine verwandelt, um über sie zu herrschen.
Andererseits sagt auch die Mutter in „Die Freiheit einer Frau“, als sie einen neuen Mann kennenlernt: „Jetzt lasse ich mich nicht mehr unterdrücken. Jetzt bestimme ich!“
Aber reproduziert sie damit nicht nur den Machtmechanismus mit entgegengesetzten Vorzeichen?
Man sucht sich immer die Muster, die einen geprägt haben. Aus denen kommt man nur heraus, wenn man verstanden hat, warum in der Vergangenheit etwas so passiert ist. Erst dann kann sich das ganze System verändern.
Die Freiheit des Spiels
Haben Sie schon früher mit Falk Richter zusammengearbeitet?
Nein. Aber die Arbeit macht großen Spaß und findet – wie im letzten Jahr mit Karin Baier – auf Augenhöhe statt. Das ist auch eine Art Befreiung, eine neue Form der Regie ohne Machtgefälle. Mit Peter Zadek war das anders. Obwohl wir uns gut verstanden haben und ich ihn durchaus vermisse, konnte er ganz schön austeilen.
Rainer Werner Fassbinder aber doch sicher auch …
Mir gegenüber waren die Regisseure zum Glück immer respektvoll und vorsichtig. Und als ich mit Fassbinder angefangen habe zu arbeiten, war ich erst sechzehn. Der hatte sozusagen genauso Respekt vor mir – vor meiner Jugend und meiner hohen Disziplin – wie ich vor ihm.
Heißt das trotzdem, dass Sie heute ihre Vorstellungen als Schauspielerin stärker einbringen können?
Nein, bei Zadek kam ja auch viel von der Bühne. Da habe ich überhaupt erst gelernt, selbstständig zu arbeiten. Einerseits war das sehr locker, andererseits richtete sich doch alles nach ihm. Aber die Freiheit des Spiels habe ich seit Zadek eigentlich immer gehabt. Wir haben manchmal monatelang bei ihm improvisiert und hatten wahnsinnig viel Zeit, unsere Rollen zu entwickeln.
Corona und die Kunst
Im Moment sind ja wegen Corona ja nur wenige Zuschauer zugelassen. Wie geht es Ihnen damit?
Wenn ich in den Saal hinunterschaue, empfinde ich das manchmal sogar als persönlicher. Am Ende sind die Leute auch unglaublich dankbar und applaudieren wie verrückt, weil sie uns wohl auch zeigen wollen, wie froh sie sind, dass sie dabei sein können. Trotzdem wünscht man sich natürlich volle Säle. Jetzt mache ich schon die dritte Produktion hier am Schauspielhaus nach „Iwanow“ und dem Jelinek-Stück und fühle mich sehr privilegiert. Leider gibt es viele Menschen in unserer Branche, die derzeit nicht auftreten können und denen es richtig schlecht geht.
Muss man nicht sogar sagen, dass die Themen des aktuellen Stücks – Armut und Gewalt – Themen sind, die durch Corona verstärkt in den Fokus geraten? Die Menschen verlieren ihre Arbeit, sitzen zu Hause und werden immer aggressiver.
Natürlich, ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Meine Nichte hat drei Söhne von ganz klein bis elf Jahre. Das ist selbst zu zweit schwer. Ich bin froh, dass meine Kinder erwachsen sind.
Wenn Sie zu einer Anhörung in den Bundestag geladen würden, um die Corona-Situation in den Theatern aus Sicht einer praktizierenden Schauspielerin einzuordnen und Ratschläge zu geben, was würden Sie dem Ausschuss sagen?
Ich glaube, ich würde da nicht hingehen. Selbst für die Fachleute scheint eine Beurteilung schwierig zu sein, weil es ja fast täglich neue Erkenntnisse gibt. Ich hatte mich auch mit der Omikron-Variante angesteckt. Es war eine ganz normale Erkältung, und jetzt bin ich genesen – für drei Monate immerhin. Viele kommen nicht so glimpflich davon, und es gibt Tote. Aber das Spiel mit der Angst, das mag ich nicht.
„Die Freiheit einer Frau“, ab dem 5. März 2022 (Premiere) im Deutschen Schauspielhaus