Das ambitionierte Ziel, die Verkehrswende zu schaffen, ist nicht im Singlespeedmodus zu erreichen. Nun ist Hamburg dabei, einige Gänge hochzuschalten
Text: Matthias Greulich
Sechster Gang: Ungeplanter Rückenwind
In der Mobilitätsforschung wird von push-Maßnahmen gesprochen, die Menschen dazu bewegen, vom Auto auf das Fahrrad umzusteigen. Das funktioniert mal besser, mal schlechter. Der größte Push-Moment der Stadt kam dann allerdings ungeplant: Im Frühjahr 2020 stieg die Mobilität auf zwei Rädern binnen weniger Wochen Corona-bedingt so stark an wie noch nie. Viele Städter holten in der Pandemie das Rad aus dem Keller, um mal rauszukommen. Andere, um mangels anderer Sportangebote fit zu bleiben. „Die Pegelmessungen haben für 2020 einen Anstieg von 33 Prozent im Radverkehr ergeben. Deshalb sind die tollen Werte aus 2020 für uns auch ein großer Ansporn, im Jahr 2021 genauso weiterzumachen“, so Verkehrssenator Anjes Tjarks (Bündnis 90/Die Grünen).
Fünfter Gang: Sprechende Räder
Fiete und Fienchen sind zwei Räder, die sprechen können. Mit ihnen fahren Paula und ihr kleiner Bruder Ben durch den Stadtpark. In zwei Pixi-Büchern, die kostenlos unter anderem in Kitas verteilt wurden, lernen Kinder schon früh, wie viel Spaß es machen kann, in der Stadt auf zwei Rädern unterwegs zu sein.
Die Bilderbücher sind Teil der Imagekampagne „Fahr ein schöneres Hamburg“, die 2019 startete und auf drei Jahre angelegt ist. Es gibt innovative Events rund ums Zweirad. Im vergangenen Sommer radelten 1.500 Besucher zum 1. Hamburger Fahrradkino auf dem Heiligengeistfeld. Auf der Kampagnenwebsite sind alle Angebote der Stadt zum Fahrradfahren übersichtlich zusammengefasst.
Vierter Gang: Mobil ohne eigenes Rad
Mit der Fähre zur 260. Stadtrad-Station der Stadt: Seit April stehen nun auch rote Räder am Fähranleger Finkenwerder. 2009 wurden die ersten Stationen eingeweiht, bis 2022 sollen Stadträder an allen U- und S-Bahnstationen verfügbar sein. Momentan bekommen rund 3.100 Bikes einen QR-Code unterhalb des Lenkers und am Schutzblech des Hinterrads verpasst. Beim Scannen mit dem Smartphone geht das Entleihen damit schneller als über die Stadtrad-App.
Mit fünf Euro im Jahr ist das Angebot, das von der Deutschen Bahn betrieben wird, deutlich günstiger als in Städten wie Berlin, wo daue haft zehn Cent pro Minute fällig sind. In Hamburg fährt man in der ersten halben Stunde abgesehen von der Jahresgebühr umsonst. Wechselt man das Rad alle 30 Minuten, kann man den ganzen Tag für null Euro fahren.
Anders als die Stadträder mit ihren roten Rahmen erkennt man die Bikes von Swapfiets an den hellblauen Vorderreifen. Es sind Fahrräder im Abo, die praktisch sind, wenn man wenig Stress mit Reparaturen haben will. Swapfiets verspricht, einen „Swapper“ genannten Mitarbeiter bei Problemen vorbeizuschicken. Fährt das Rad dann immer noch nicht, soll es in spätestens 48 Stunden ausgetauscht werden. Das auf Hamburger Radwegen sehr präsente „Deluxe 7“ mit – man ahnt es – sieben Gängen, ist für 19,90 Euro im Monat zu haben, zusätzlich werden einmalig noch einmal 19,50 Euro fällig.
Der niederländische Anbieter will demnächst auch ein robustes E-Bike für monatlich 75 Euro in Hamburg ausliefern. Abholen kann man die Räder im Swapfiets-Laden in der Holstenstraße 167 oder sie werden vom Swapper vorbeigebracht.
Dritter Gang: Bike+Ride
Die städtische P + R-Betriebsgesellschaft mbH macht nun auch in Fahrrädern. Sie ist dabei an allen U- und S-Bahnhöfen im Stadtgebiet neue Fahrradplätze zu schaffen. Die neuen Bike+Ride-Stationen sind gut auf die Bedürfnisse von Pendlern zugeschnitten. Es gibt überdachte kostenlose Plätze. Und wer sein teures E-Bike dort abstellt, kann den Akku im Schließfach verstauen und ebenso wie den Stellplatz abschließen. Kostet allerdings 126 Euro im Jahr. An der Kellinghusenstraße entsteht gerade das erste städtische Fahrradparkhaus mit 600 Plätzen. Es soll in diesem Frühjahr eröffnet werden, die Karte dazu gibt’s hier.
Zweiter Gang: Luft
Nicht an allen Tankstellen sind Radfahrer mit niedrigem Reifendruck willkommen. Eine charmante Idee ist es daher, dass auch an den silbernen Hightech-Toiletten der Stadtreinigung, die etwa am U- Bahnhof Feldstraße oder in Harburg Rathaus aufgestellt wurden, Luftstationen integriert sind. Und auch Kay Gätgens (SPD), passionierter Radler und Leiter des Bezirksamts Eimsbüttel, braucht ebenso wie Mitarbeiter und Besucher keine Luftpumpe mehr mitzunehmen. Mittlerweile gibt es hamburgweit über 20 Stationen, da ist, hüstel, aber noch Luft nach oben.
Erster Gang: Radwege
Beim Bau neuer Radwege muss Hamburg auf dem größten Ritzel fahren. Es wird eine gewaltige Kraftanstrengung nötig sein, bis das Radwegenetz komplett umgebaut sein wird. Für den leidenschaftlichen Radfahrer Anjes Tjarks mag es sich anfühlen, als ob er den Waseberg mit Bleiweste hinaufradeln müsste. Dabei hört sich Tjarks’ Bilanz zunächst nicht schlecht an: 62 Kilometer Radwege hat Hamburg im Jahr 2020 neu gebaut oder saniert.
Insbesondere beim Veloroutennetz tat sich einiges. Die Koordinatorin der Mobilitätswende Kirsten Pfaue bilanzierte: „Wo früher hubbelige und enge Radwege waren, entstehen mehr und mehr breite und komfortable Angebote und echte Verbindungen.“ Zusätzlich ließ ihre Behörde drei Pop-up-Radwege anlegen: Beim Schlump, in der Max-Brauer-Allee und zwischen Sandtorkai und Brooktorkai wurde der Platz für Radfahrer mit gelber Farbe verbreitert. Zum ersten Mal sind in Hamburg „Kopenhagener Radwege“ geplant. Auf Teilstücken der Elbchaussee wird die Radspur „baulich vom Kfz-und Fußverkehr getrennt“.
Beim ADFC-Fahrradklima-Test 2020 wurden die Anstrengungen der Stadt von den 4.257 Befragten allerdings nicht honoriert. Hamburg bekam wie so oft in den Jahren zuvor ein schwaches Ausreichend (Durchschnittsnote 4,1) auf die Frage „Und wie ist Radfahren in Deiner Stadt?“. Die größten Kritikpunkte: Die Radwege seien häufig viel zu schmal und nicht vom Autoverkehr abgetrennt. Dadurch werde durch zu schnell fahrende oder falsch parkende Autos die Sicherheit der Radfahrer gefährdet. Tom Jakobi, stellvertretender Landesvorsitzender des ADFC Hamburg, kritisierte: „Obwohl in Hamburg punktuell Lichtblicke in Form von Protected Bike Lanes oder Kopenhagener Radwegen entstehen sollen, fehlen spürbare, hamburgweite Fortschritte. Wo wenig Verkehrsraum ist, wird bei Neuplanungen in der Regel nach wie vor zuerst an der Radwegebreite gespart, wie sich in der Umfrage bestätigt.“
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Mai 2021. Das Magazin ist seit dem 29. April 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!