Jo Hedwig Teeuwisse sagt Fake History den Kampf an

Die Wissenschaftlerin setzt sich seit Jahren dafür ein, Fake News den Garaus zu machen. Genauer: Dafür zu sorgen, dass wir uns keinen Quatsch über Geschichte erzählen lassen. Nun hat sie ein Buch über die bekanntesten Fälle von Fake History geschrieben – und sorgt damit für mehr Wahrheit in der Welt
„Nicht blind alles glauben“: Jo Hedwig Teeuwisse (©Frank Kouws)

SZENE HAMBURG: Jo Hedwig Teeuwisse, der erste Satz in der Einleitung Ihres Buches „Fake History“ lautet: „Ich war schon immer von Geschichte besessen.“ Wie kam es dazu?

Jo Hedwig Teeuwisse: Meine Mutter erzählte mir, dass ich, als ich noch ganz klein war, mal ein altes Foto von unserer Straße gefunden habe. Ich habe es angeschaut, aus dem Fenster gesehen habe und festgestellt, dass die Welt früher ganz anders aussah, schöner. Dann habe ich geweint. Das war in den Siebzigerjahren, da war vieles hässlich. Da wurde mir klar, was Geschichte ist; dass sie uns überall umgibt. Das hat mich fasziniert.

Sie arbeiten mittlerweile als Historikerin und gehen im Zuge dessen unter anderem Mythen auf den Grund, die allgemein für wahr gehalten werden. Warum ist es Ihnen so wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht auf sogenannte Fake History hereinfallen?

Ich kann Fehlinformationen schlicht und einfach nicht ertragen – vor allem wenn es um ein Thema geht, das mir am Herzen liegt. Für mich ist das nur nervig, aber Fake History kann auch ungemein gefährlich sein. Wenn Menschen sie zum Beispiel nutzen, um einige Leute besser und andere schlechter aussehen zu lassen. Oder wenn sie dadurch Propaganda verbreiten – wie wir es momentan ja regelmäßig in den Nachrichten sehen können.

Dann war der Umstand, dass Sie Fake History nicht ausstehen können, wohl auch der Grund, warum Sie ein Buch darüber geschrieben haben.

Ja. Weil meine Aufklärung über Fake History in den sozialen Medien für viel Aufsehen gesorgt hat, kontaktierte mich ein Verleger und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch darüber zu schreiben. Und das fand ich eine grandiose Idee.

Mehr kritisch denken

Fake History: Ein Buch gegen Fake News
„Fake History“ von Jo Hedwig Teeuwisse ist im Heyne Verlag erschienen (©Heyne Verlag)

Allein in Ihrem Buch klären Sie 101 Begebenheiten aus der Geschichte auf, die Sie als falsch entlarvt haben. Das ist eine erschreckend hohe Zahl – aber wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs, oder?

Und ob! Es gibt noch so viel mehr. Und jeden Tag kommt etwas Neues hinzu!

Wenn in unserer Geschichte so viel falsch ist, muss man dann nicht davon ausgehen, dass das gesamte Fundament unserer Kultur auf sehr wackeligem Boden steht?

Nein, denn unser gesellschaftliches Fundament basiert auf mehr als nur historischen Details.

Nämlich?

Na ja, sicherlich gibt es Fälle von Fake History, bei denen uns unser Leben lang etwas beigebracht wurde, was schlichtweg nicht stimmt. Das kann durchaus einen großen Einfluss darauf haben, wie manche Menschen die Welt sehen. Aber meiner Erfahrung nach macht das Erlernen der Wahrheit die Dinge besser, fügt Kontext und Tiefe zu einer Geschichte hinzu, die wir zu kennen glaubten. Ich hoffe, dass die Menschen dadurch mehr darüber nachdenken, woher ihre Informationen stammen – und nicht automatisch alles glauben, was ihnen beigebracht wird; und nicht nur an etwas glauben, weil sie daran glauben wollen. Wir müssen lernen, wieder mehr kritisch zu denken.

Welcher Mythos oder welche historische Tatsache, die sich als falsch herausstellte, hat Sie am meisten schockiert?

Die Mythen über das vermeintlich düstere Mittelalter hatten den größten Einfluss auf mich. Wie allen anderen wurde auch mir in der Schule beigebracht, dass die Menschen im Mittelalter dumm und ihre Städte dreckig gewesen sind – und dass Europa nach dem Ende des Römischen Reiches ins Chaos gestürzt wurde. Heute weiß ich, dass das so nicht stimmt. Die Leute damals haben gebadet, sich gewaschen, haben ihre Gehirne benutzt und auch die Städte waren nicht viel schmutziger als die römischen, wahrscheinlich sogar sauberer. Ich lerne jeden Tag wieder etwas Neues über das Mittelalter hinzu, das mich beeindruckt und mir klar macht, wie falsch wir mit vielen vermeintlich verbrieften Aussagen über diese Epoche liegen.

Fake History kann Menschen beeinflussen

Sind die Menschen Ihnen generell dankbar, wenn Sie vermeintliche Tatsachen als falsch entlarven? Oder sind sie eher verärgert, weil Sie ihre kulturellen Grundfesten erschüttern?

Unterschiedlich. Ich würde aber sagen: Es sind mehr Menschen verärgert als dankbar. Denn abgesehen davon, dass sie etwas hören, was sie vielleicht nicht glauben wollen, macht es natürlich keinen Spaß, in der Öffentlichkeit zurechtgewiesen zu werden.

Ich mag es sehr, die Leute darüber aufzuklären, dass der Weihnachtsmann keine Erfindung von Coca-Cola ist

Jo Hedwig Teeuwisse

Welche Gefahr stellt Fake History für uns als Gesellschaft dar?

Fake History kann dazu verwendet werden, einer Gruppe von Menschen das Gefühl zu geben, besser zu sein als eine andere. Sie kann dazu führen, eine Kultur als minderwertig darzustellen und eine andere als überlegen. Während der Covid-Pandemie wurde Fake History dazu missbraucht, um Menschen vom Masken tragen abzuhalten – sie hatte also sehr direkte und unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien?

Eine sehr große. Bevor es soziale Medien gab, musste man in eine Bar gehen und seinen Freunden seine erfundenen Geschichten erzählen. Die haben sie vielleicht weitererzählt, und vielleicht hat irgendjemand irgendwann mal ein Buch darüber geschrieben, sodass sie nach vielen Jahren ein paar tausend Menschen geglaubt hätten. Aber heutzutage kann jeder eine Unsinnsgeschichte in den sozialen Medien posten, und noch bevor man ein Sandwich aufgegessen hat, wurde sie von Millionen von Menschen gesehen. Das ist erschreckend.

„Geschichtsfälschung gibt es, seit Menschen kommunizieren können“

Gibt es denn auch lustigste Fälle von Fake History?

Natürlich – jede Menge! Ich mag es sehr, die Leute darüber aufzuklären, dass der Weihnachtsmann keine Erfindung von Coca-Cola ist – was viele Menschen immer noch glauben.

Und welches ist der tragischste Fall von Fake History?

Ich finde es immer tragisch, wenn Menschen sich bei Identitäten vertun. Wenn beispielsweise über Frauen geschrieben wird wie Rebeca Lee Crumpler, Charlotte E. Ray und Clora Byrant, die erstaunliche Dinge erreicht haben, bei denen dann aber falsche Fotos verwendet werden. Das finde ich bitter.

Ein Tiktok-Video oder Meme sind kein Beweis!

Jo Hedwig Teeuwisse

Welches ist denn der erste verbriefte Fall von Geschichtsfälschung?

Geschichtsfälschung gibt es, seit Menschen kommunizieren können. Ich wette, dass unsere prähistorischen Vorfahren sich bereits gegenseitig darüber belogen haben, was die coolen Abenteuer ihrer Großeltern angeht oder darüber, wie groß das Mammut, das sie getötet haben, wirklich war. Auch einige der Höhlenmalereien waren sicher heldenhafter und mutiger dargestellt, als sie es tatsächlich waren. Und auch, als die Menschen anfingen, Geschichte aufzuzeichnen, wurden Dinge beschönigt oder man hat sich schlichtweg falsch erinnert. Wir können und sollten nicht davon ausgehen, dass die Sumerer, die als erste mit der Niederschrift der Geschichte begannen, alles richtig gemacht haben.

Was war der längste, schwierigste und komplexeste Fall von Fake History, den Sie aufgedeckt haben?

Langwierig und schwierig gehen nicht immer Hand in Hand. Manche Fälle dauern bloß lange, weil mir jemand jahrelang nicht auf eine E-Mail geantwortet hat. Aber es gibt Fälle, die in der Tat ungemein komplex sind – bei denen es sich anfühlt, als würde man ein Verbrechen aufklären.

Quellen und Referenzen prüfen

Gibt es einen Mythos, den Sie für falsch halten, bei dem Sie das aber noch nicht beweisen konnten?

Ja, mit solchen Fällen habe ich einen ganzen Ordner voll! Besonders nervig ist der Fall eines alten hethitischen Kristalls, der wie ein kleiner Igel mit großer Nase aussieht. Ich bin mir sicher, das der Kristall nicht sonderlich alt ist. Ich habe die Person, die das Foto gemacht hat, bereits ausfindig gemacht und diverse Löcher in seine Behauptung gestochen. Aber solange ich nicht weiß, woher das Teil stammt, habe ich keine stichhaltigen Beweise dafür, dass es sich um eine Fälschung handelt.

Gibt es eine Zeit, in der besonders viel Fake History entstanden ist?

Man kann sagen: Je extremer die Zeiten, desto mehr Fake History wird in Umlauf gebracht – wie während Covid, des Russland-Ukraine-Krieges und bei den derzeitigen Ereignissen in Gaza und Israel. Wenn die Menge an gefälschten Nachrichten, die das Internet überschwemmt, zu einem Tsunami anschwillt, wird es Fake History.

Ich kann Fehlinformationen schlicht und einfach nicht ertragen

Jo Hedwig Teeuwisse

Können wir irgendetwas tun, um sicherzustellen, dass wir nicht auf Fake History hereinfallen?

Nicht blind alles glauben, was jemand behauptet. Immer erst die Quellen und Referenzen prüfen. Wenn etwas wahr ist, sollten sie es beweisen können. Ein Tiktok-Video oder Meme sind kein Beweis! Wir müssen den Menschen wieder stärker beibringen, wie man Grundlagenforschung betreibt und kritisch denkt.

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich habe mehrere Ideen für neue Bücher: Ein weiteres über Fake History, aber auch einige Belletristikbücher für Kinder, auch über Geschichte. Aber natürlich sehr, sehr gut recherchiert. (grinst)

Jo Hedwig Teeuwisse: Fake History, Heyne Verlag, 432 Seiten, 18 Euro

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 02/2024 erschienen.

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