Filmkritik: „Anatomie eines Falls“

Schuldig oder nicht? Justine Triets packendes Justizdrama „Anatomie eines Falls“ zeigt, mit der überragenden Sandra Hüller in der Hauptrolle, eindrucksvoll die Fehlbarkeit der Wahrnehmung auf

Sandra Voyter (Sandra Hüller) entdeckt gemeinsam mit ihrem elfjährigen Sohn Daniel die Leiche ihres Ehemanns Samuel (Samuel Theis) (©Les Films Pelleas/Les Films De Pierre)

Die deutsche Schriftstellerin Sandra Voyter (überragend: Sandra Hüller) lebt mit ihrem französischen Ehemann Samuel (Samuel Theis) und dem elfjährigen Sohn Daniel zurückgezogen in den Bergen bei Grenoble. Die äußerliche Idylle trügt. Seit der Junge durch einen Unfall fast erblindete, quälen Samuel nicht nur Schuldgefühle, sondern auch Eifersucht und Neid auf seine Frau. An diesem Nachmittag findet Daniel nach einem Spaziergang mit Hund Snoop die blutüberströmte Leiche seines Vaters am Fuße des Chalets. Die Polizei ermittelt: Wie kam es zu dem Sturz aus dem dritten Stock? War es ein Unfall, Suizid oder Mord?

Ab dem 2. November 2023 im Kino: „Anatomie eines Falls“ (©Les Films Pelleas/Les Films De Pierre)

Die Fehlbarkeit der Wahrnehmung

Ein Jahr später steht Sandra vor Gericht, angeklagt wegen Mordes. Doch der Indizienprozess dreht sich mangels Beweisen nur um das emotionale Chaos einer zerrütteten Beziehung. Der Staatsanwalt genießt die Wortgefechte. Verführerisch, geradezu gerissen in seiner Argumentation, versucht er die schwer durchschaubare Angeklagte zu provozieren, macht keinen Hehl aus seiner Voreingenommenheit. Alles wird gegen Sandra verwendet: ihre Bisexualität, der Erfolg ihrer Romane, die damit verbundene finanzielle Überlegenheit, sogar ihre Selbstbeherrschung vor Gericht. Es stockt einem der Atem. Selbst der elfjährige Daniel ist bei Gericht unter den Zuschauern – auf eigenen Wunsch. Er will die Wahrheit über seine Eltern erfahren. In das Vertrauen zur Mutter mischen sich Zweifel. Die belastende Audio-Aufnahme eines Streits taucht auf …

Der Titel des in Cannes preisgekrönten feministischen Thrillers „Anatomie eines Falls“ spielt auf Otto Premingers US-Klassiker „Anatomie eines Mordes“ von 1959 an. Die französische Regisseurin Justine Triet („Sybil“) setzt das Kinopublikum damit auf die erste von vielen falschen Fährten. Triet versucht der Realität so nah wie möglich zu kommen, verzichtet dabei (mit einer Ausnahme) auf Rückblenden, entscheidet sich vielmehr für einen fast dokumentarischen Stil. Ihr Ziel: größtmögliche Sachlichkeit. Die Situation ist ohnehin bis zum Äußersten emotional aufgeladen, das akribische Sezieren der Ehe ein verstörend-intimer Vorgang. Die Wahrheit hat sich längst aufgelöst und mit ihr die Utopie der Gleichberechtigung. Sie sprachen Englisch miteinander, eine gemeinsame Sprache fanden die beiden nie.

Anatomie eines Falls“, Regie: Justine Triet. Mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner. 151 Min. Ab dem 2. November 2023 im Kino

Hier gibt’s den Trailer zum Film:

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Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 11/2023 erschienen.

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