Der neue Film des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke ist sowohl ästhetisch als auch erzählerisch eine Art Experiment. Er beschreibt die gescheiterte Beziehung eines Paares aus der nordchinesischen Provinz. Ihre Geschichte ist untrennbar eingebettet in die gesellschaftlichen Umwälzungen, die China von 2001 bis 2022 (die chronologischen Eckpfeiler des Films) durchlief. Zhangkes langjährige Muse Zhao Tao beeindruckt in der Hauptrolle. Qiao aus der Provinzstadt Datong schlägt sich zu Anfang als Tänzerin und Sängerin in einem heruntergekommenen Kulturzentrum durch.
Hier trifft sie den Musikpromoter Bin (Li Zhubin). Ehe Qiao sich versieht, steckt sie in einer toxischen Beziehung mit dem launischen Möchtegern-Businessman. Bin macht auch vor physischem Missbrauch nicht halt. Doch dann verschwindet er plötzlich. Per SMS teilt er Qiao mit, dass er anderswo sein Glück versuchen und sie angeblich später nachholen wird. Darauf wartet Qiao lange vergeblich. Jahre später macht sich die Geschasste auf die Suche nach dem verschwundenen Partner. Sie weiß, dass Bin auf einer der zahlreichen Baustellen des gigantischen Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse-Fluss arbeitet.
„Caught by the Tides“: Notlösung und Glücksgriff

Es ist der Wunsch, ihm nach seinem feigen Abgang noch einmal in die Augen zu schauen und einen Schlussstrich ziehen, der Qiao antreibt. Zhangkes filmische Langzeitbeobachtung dieser starken Frau gelingt auch deshalb so umwerfend, weil er für „Caught by the Tides“ auf ungenutztes Filmmaterial älterer Projekte zurückgriff, bei denen Zhao Tao ebenfalls mitwirkte. Wir sehen Qiao im Fortlauf der Handlung also tatsächlich (sehr anmutig) altern; ein Effekt, den keine noch so gute Maske oder KI zu erreichen imstande wäre. Zhangkes filmisches „Aus alt mach neu“ begründet sich in Chinas rigiden Covid-Restriktionen, die es ihm zum Zeitpunkt der Umsetzung unmöglich machten, einen regulären Dreh durchzuführen. Doch seine Notlösung erweist sich als Glücksgriff, generiert sie doch eine sehr einnehmende, das Schicksal eines ganzen Landes widerspiegelnde Geschichte von Liebe und Leid.
Hier gibt’s den Trailer zum Film:
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Diese Kritik ist zuerst in SZENE HAMBURG 05/25 erschienen.