Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden: Wahnsinnig bizarre Komödie aus Spanien
Eine Zugfahrt ist immer auch ein zufälliges Aufeinandertreffen von Menschen. Einigen begegnet man gern, anderen nicht, einige Unterhaltungen sind nett, andere eher aufdringlich. Wenn Helga Pato (Pilar Castro) also den Zug nach Madrid besteigt, auf den Psychiater Ángel San agustin (Ernesto Alterio) trifft, und der ihr unaufgefordert Geschichten von seinen Patienten erzählt, dann folgt das Kinopublikum ebenso neugierig und doch auch mit dem selben beklemmenden Gefühl, keine Fluchtmöglichkeit zu haben – wie in einem Zug eben.
Die Fahrt ist aber lohnenswert. Erzählt wird zunächst die Geschichte von Martin Urales de Úbeda (Luis Tosar), einem ehemaligen Soldaten, der im KosovoKrieg einer Ärztin begegnet, die im Krisengebiet ein Kinderkrankenhaus betreibt, sich in politischen Kreisen prostituiert und aufgrund der finanziellen Not des Spitals wider willig einem Deal zustimmt – mit grausamen Folgen. Auch die Geschichten der weiteren Patienten – eine skurriler als die andere – ziehen den Zuschauer in den Bann. Erst spät wird deutlich, dass deren Leben irgendwie alle miteinander verwoben sind – auch wenn nie ganz klar wird, wie.
Der Film wirkt wie eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten, die zusammen einen Film ergeben. Das gleicht dem Prinzip einer Matrjoschka, jener russischen Steckpuppe, die immer wieder in zwei Hälften getrennt wird, sodass jeweils eine weitere Puppe zum Vorschein kommt. Die Lebensgeschichten, die dabei gezeigt werden, sind allesamt packend, intensiv und in starken, einprägsamen Bildern erzählt, wobei die Erzähltechnik sich jeweils, den unterschiedlichen Genres (Horror, Komödie, Tragödie) anpasst.
Der Film, der auf dem Roman von Antonio Orejudo basiert, erzeugt unweigerlich verschiedenste Gefühlszustände – vom Schock, Mitgefühl, Ekel, der Verwirrung bis zur Ablehnung. Dieser Film dürfte daher ebenso viel Zuspruch, wie Ablehnung erfahren – aber er bleibt unweigerlich im Kopf.
Dem jungen spanischen Nachwuchsregisseur Aritz Moreno, gelingt mit seinem ersten Spielfilm, nach seinem auf internationalen Festivals gefeierten Kurzfilm „Cólera“ (2013) ein intensives, unvergessliches Filmerlebnis, das durch seine verspielte, gewaltige, ausdrucksstarke und teils verträumte und farbgesättigte Bildsprache entfernt an „Die fabelhafte Welt der Amelie“ erinnert. Aufgrund mancher Szenen trägt der Film ein FSK 18-Kennzeichen. Für Hundeliebhaber hat der Streifen ein besonders leckeres Appetithäppchen (Vorsicht: bitterschwarzer Humor!). Und ab sofort: Achtung vor den Müllmännern!
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, August 2020. Das Magazin ist seit dem 30. Juli 2020 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!