Diese Chance ließ sich auch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier nicht entgehen. Ende September 2021 besuchte er die Fotoausstellung „Wir sind von hier. Türkischdeutsches Leben 1990“ im Ruhrmuseum in Essen, die zum Anlass des 60-jährigen Jubiläums des Abschlusses des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens ins Leben gerufen wurde. Seit den 1950er-Jahren schloss die Bundesrepublik mit mehreren Ländern – darunter Italien, Spanien, Griechenland und Portugal Anwerbeabkommen ab, um den Mangel an Arbeitskräften im Wirtschaftswunderland auszugleichen. Viele der „Gäste“ blieben und wurden Teil der Gesellschaft.
Beeindruckendes Panorama
Vom 4. Februar bis zum 6. Juni wird diese außergewöhnliche Fotoausstellung nun auch im Museum für Hamburgische Geschichte zu sehen sein. Sie zeigt Fotos des renommierten Istanbuler Fotografen Ergun Çağatay (1937–2018). Çağatay hatte 1990 sechs Wochen lang die Städte Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg besucht, um die türkischen Gastarbeiter der ersten und zweiten Generation abzulichten. Etwa 3500 Fotos sind entstanden. 120 sind in der Ausstellung zu sehen. Sie zeigen das Alltagsleben der aus der Türkei stammenden Frauen und Männer und geben Einblick in Wohnzimmer, Moscheen, Fabriken, Obst- und Lebensmittelgeschäfte sowie in ein Stahlwerk und eine Steinkohlenzeche. „Das Ziel meiner Reise bestand darin, die soziale Integration beziehungsweise Nicht-Integration der zweiten Generation zu zeigen“, zitiert die Ausstellung den vor drei Jahren gestorbenen Fotografen.
Von Blohm+Voss bis zur Moschee in St. Georg
In Hamburg fotografierte Çağatay unter anderem die Schiffswerft Blohm+Voss. Aber auch Fotos auf dem Altonaer Flohmarkt, dem Großmarkt und der Moschee in St. Georg befinden sich in der Sammlung. „Ein beeindruckendes Panorama der türkisch-deutschen Lebenswelt, so Prof. Dr. Hans-Jörg Czech, Direktor und Vorstand der Stiftung Historische Museen Hamburg. Flankiert werden die Bilder von acht Video-Interviews mit Persönlichkeiten, die wichtige Beiträge zum Thema deutsch-türkische Migration geleistet haben. Unter ihnen der Investigativ-Journalist Günter Wallraff, der 1985 seine Erfahrungen als Türke „Ali“ in seinem Buch „Ganz unten“ veröffentlicht hatte.
Die Anerkennung der Lebensleistung von Gastarbeitern
Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm. So sind unter anderem öffentliche (Gruppen-)Führungen, Gespräche, Workshops, Schulführungen, ein Fotografie-Workshop, ein Symposium, ein Podiumsgespräch und eine Schreibwerkstatt geplant. „Durch die Geschichten und Erfahrungen der Menschen bekommt Zuwanderung ein Gesicht, besser gesagt: viele Gesichter“, so Michelle Müntefering (SPD), Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Es sind Gesichter von Gästen, die hierzulande zu großen Teilen inzwischen zu Hause sind. „Wir sind von hier“ lautet daher der treffende Titel der Ausstellung. Insbesondere die Texte des 72 Seiten umfassenden Begleitmagazins zeigt auch die Zerrissenheit und den Schmerz, den eine Einwanderung – und sei sie auch nur auf Zeit – mit sich bringt. Die Anerkennung der Lebensleistung von Gastarbeitern hat noch immer Seltenheitswert. Vielleicht vermag diese Ausstellung zum gegenseitigen Verständnis beitragen.
„Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990 Fotografien von Ergun Çağatay“ im Museum für Hamburgische Geschichte, noch bis zu 6. Juni 2022