Im 13. Jahr von gute aussichten wählte die Jury sieben Arbeiten aus. Vom 10.3- 1.5.2017 sind sie in den Deichtorhallen zu bewundern
77 Einreichungen aus 32 Institutionen erreichten die Jury des Wettbewerb gute aussichten – junge deutsche fotografie 2016/2017. Und das sind die Gewinner
Miia Autio // Variation of White // Fachhochschule Bielefeld
Dunkelhäutige Frauen und Männer in bunter Kleidung bevölkern die Porträts von Miia Autio und verorten diese Menschen in unserem westlichen Blick nahezu instinktiv in Afrika. Irritation erregt jedoch sofort ein roter Punkt an der immer gleichen Stelle.
Auch die röntgenartige Optik, die sich in „unser“ Bild drängt, signalisiert, dass unser Eindruck und der wahre Bildgegenstand vielleicht nicht übereinstimmen. Denn nicht das Positiv, sondern das Negativ wurde für den Abzug verwendet. Und dieses sorgt dafür, dass wir schwarze Menschen sehen, die in Wirklichkeit weiß sind. Ein genetischer Defekt hat aus ihnen Albinos gemacht, was in Tansania mit dem Glauben an magische Kräfte verknüpft ist und die Betroffenen zu Außenseitern der Gesellschaft stempelt.
So behandelt ‚Variation of White‘ in erster Linie das subjektive Sehen und das Entstehen von Bildern in unserem Kopf, das nach vergleichbaren Mustern abläuft wie die Bildung von Vorurteilen.
Chris Becher // Boys // Kunsthochschule für Medien Köln
Um vorgefertigte Bilder und klischeebehaftete Meinungen geht es in ‚Boys‘ von Chris Becher. Dieses Sujet ist ein besonderes Minenfeld, denn Menschen, die professionell ihren Körper anbieten, umgibt in der Vorstellung der „Normalbürger“ ein schmuddeliges, zwiespältiges Image.
Es ist schnell die Rede von einem halbseidenen Milieu mit zwielichtigen Protagonisten. Dabei handelt es sich um ein Gewerbe, das so alt sein dürfte wie die Welt. Je nach kulturhistorischem, politischem oder religiösem Kontext schwankt die öffentliche Meinung zwischen Akzeptanz, Ablehnung, Kriminalisierung oder Verfolgung. All dieses hat Chris Becher mit seiner fotografischen Feldstudie elegant umschifft.
Indem er uns männliche Sexarbeiter auf gleicher Augenhöhe in sachlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigt, lenkt er unseren Blick auf die Menschen, die im Fokus seiner Untersuchung stehen. Und indem er jegliche Bewertung bewusst vermeidet, öffnet er auch unseren Blick für eine wertfreie Betrachtung.
Carmen Catuti // Marmarilo // Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
Marmor, Gold, Samt und Seide sind Materialien, die in sakralen Kontexten zur Inszenierung von Heiligkeit und Spiritualität dienen. Ihre Kostbarkeit illustriert göttliche Allmacht und Präsenz.
Hinzu gesellt sich ein Kanon von Formen, Gesten und Haltungen, der sich im Lauf der Jahrhunderte in der christlichen Bildpraxis etabliert hat. Auf dieses Dreigespann aus Material, Geste und Form referiert ‚Marmarilo‘ (georgisch für Marmor). Gegliedert in zwölf Werkgruppen, befragt, zitiert und interpretiert Carmen Catuti die Zeichensprache religiöser Repräsentanz.
So schimmert das Blau als Verweis auf das Göttliche im Bildnis einer jungen Frau, in einem Faltenwurf oder als Dekor für liturgische Artefakte. Gegenspieler ist das Rot, in der Bibel die Farbe für Sünde und Sühne, verknüpft mit Strafe, Krieg und Tod. Im Rot schließt sich der Kreis, ganz im bildhaften Sinne des Wortes – als Metapher und als Versprechen des Ewigen.
Andreas Hopfgarten // Die Weltesche Yggdrasil oder die Suche nach einer verlorenen Erinnerung // Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Aus Briefen, Dokumenten, Erzählungen, Fotos und anderen Fundstücken konstruierte Andreas Hopfgarten‚ ,die verlorene Erinnerung‘ seiner Familie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach.
Ein hybrides Puzzle mit vielen Leerstellen, das er, einem Archäologen gleich, Stück für Stück ausgräbt, zusammensetzt und mit eigenen Bildern und Objekten füllt. Hopfgartens Vorgehensweise kann als exemplarisch gelten, speist sich unsere Erinnerung doch aus einer Vielzahl von Bruch- und Versatzstücken gelebten Lebens.
Sich erinnern ist nie ein faktischer Akt, sondern ein Hineintauchen in die Sedimente unserer Seele. Dorthin, wo wir Angst, Freude, Glück, Liebe, Schmerz und Verlust vergraben, alles Erlebte speichern wie in einer Blackbox. Ein Geruch, ein Klang, ein Bild vermögen diese Box zu öffnen und uns zu vergegenwärtigen, dass Erinnerungen tief verwurzelt sind in unserem Sein – wie die ‚Weltesche Yggdrasil‘, der Weltenbaum, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreift.
Holger Jenss // Last Chance Junction // Kunsthochschule Kassel
Ein weißer Europäer fährt nach Afrika – das erweckt in uns Bilder von Forschern und Eroberern, von „Wilden“, denen Kolonialisten Kultur brachten, von Versklavung, Hunger und Krieg, von Dr. Grzimek, Safari und postkolonialer Afrikaromantik.
Nichts von alledem hat Holger Jenss aus Ghana mitgebracht, und doch steckt all das in ‚Last Chance Junction‘. „Critical Whiteness“ ist eines der Stichwörter, dem Jenss auf die Spur kommen wollte. Er war in Ghana die Minderheit. Der Weiße, der mit einem Blick nach Afrika kommt, in den unausweichlich all jene Bilder eines Kontinents geflossen sind, der seit der Antike von fremden Mächten heimgesucht wird. So setzt sich Jenss in (selbst)ironischer Weise mit diesen Sedimenten unseres kollektiven (Bild-)Gedächtnisses auseinander und nimmt dabei nicht nur seine eigene kulturelle Aneignung, sondern auch die kuriose Verinnerlichung der weißen Kultur seitens der Afrikaner aufs Korn.
Quoc-Van Ninh // Tenebrae // Hochschule für Künste Bremen
Was aktuell moralisch wie politisch für gehörigen Sprengstoff sorgt und zwischen den verschiedenen Fronten zu einem Granulat aus bizarren An- und Aussprüchen zermahlen wird, betrachtet Quoc-Van Ninh in ‚Tenebrae‘ trotz seiner inneren Zerrissenheit mit einer gewissen Gelassenheit. Er hat die gratwandlerische Aufgabe, sich zwischen drei verschiedenen Kulturkreisen zu bewegen: Sein Vater ist Vietnamese, seine Mutter aus China und er in Deutschland geboren und aufgewachsen.
Es begleite ihn stets ein Gefühl der Fremde, sagt er, und ich möchte ihm zurufen: „Mich auch!“, bin ich mir doch gar nicht so sicher, ob ich stets auf jene Kultur referieren möchte, die qua Geburt und Familienhintergrund nur deutsch ist.
Quoc-Van Ninh ist gerade ob dieses Hin-und-her-Geworfenseins ein gelungenes Beispiel dafür, dass Integration immer dann gelingt, wenn nicht verlangt wird, alle „fremden“ kulturellen Wurzeln zu kappen. Die subjektive Verortung ist bisweilen unbestreitbar schwer, aber sie ist integrativer Bestandteil jeder Sozialisation. Es ist gut, Quoc-Van Ninh in die dunkle Welt seines gefühlten Andersseins zu folgen,erzählt sie uns doch in jedem Fall auch etwas über uns selbst.
Julia Steinigeweg // Ein verwirrendes Potenzial // Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Puppen haben eine lange Tradition – im Kinderzimmer wie in der Kunst. Im Kinderzimmer wird spielerisch das Leben an ihnen geübt. In der Kunst dienen sie als Modell, als Artefakt oder Objekt, als Projektionsfläche oder als lebensechte Skulptur. Julia Steinigeweg untersucht ein Phänomen, das irgendwo dazwischen angesiedelt ist: Lebensgemeinschaften mit Puppen – als Partner- oder Kindersatz, möchte man instinktiv hinzufügen und bezweifelt sogleich, ob dies so stimmt.
Viele Gründe können Menschen dazu bewegen, ihr Leben mit einem lebensechten, aber nicht lebendigen Gegenüber zu verbringen. Die Rollen zwischen Mensch und Puppe jedenfalls sind klar verteilt. Einerseits. Anderseits stellt sich die Frage, in welche Art der Beziehung ein erwachsener Mensch zu einem leblosen Objekt treten kann und will. Und wie reagieren wir auf ein solches Phänomen? Kinder jedenfalls lieben und hassen ihre Puppen, behandeln sie wie ihresgleichen und benehmen sich ihnen gegenüber manchmal auch sehr schlecht. Also durchaus: ‚Ein verwirrendes Potenzial‘.
Haus der Fotografie in den Deichtorhallen, 10. März bis 1. Mai 2015
Tipp: Der Katalog zu gute aussichten – junge deutsche fotografie // new german photography 2016/2017 stellt die sieben Preisträger und ihre Arbeiten in Wort und Bild vor. Stefan Becht & Josefine Raab (Herausgeber), 224 Seiten, über 380 Abbildungen, 24,90 Euro, Sieveking Verlag, München