Dennis Knorz: „Die Begrifflichkeit ,taubstumm‘ sollte vermieden werden“

Dennis Knorz übersetzt als Gebärdensprachdolmetscher das Bühnenprogramm des CSD-Straßenfests für Gehörlose. Ein Gespräch mit dem Hamburger des Monats über Sprache
Dennis Knorz: „Als Dolmetscher bin ich neutral.“ (©Marco Knorz)

SZENE HAMBURG: Dennis, welche besonderen Herausforderungen erwarten dich beim CSD-Straßenfest?

Dennis Knorz: Ich habe keinen direkten Menschen vor mir, für den ich ein Face-to-Face-Gespräch dolmetsche wie zum Beispiel bei einem Arztbesuch mit einem Klienten. Ich habe eine andere Präsenz auf der Bühne, stehe zusammen mit den Vortragenden im Mittelpunkt. Bei einer großen Veranstaltung wie dem CSD-Straßenfest weiß ich oft nicht, ob überhaupt jemand vor Ort ist mit einer Hörschädigung. Wenn ich etwas dolmetsche, habe ich nie das Feedback von einer Person, für die ich dolmetsche.

Hast du auch mal Lampenfieber bei einem so großen Publikum?

Das kommt ab und zu vor. Als ich angefangen habe zu dolmetschen, war das noch häufiger. Die Aufregung ist jedoch nach wenigen Minuten vorbei. Man konzentriert sich auf das Dolmetschen, auf die Situation an sich, dass man das Drumherum nicht mehr wahrnimmt. Man vergisst es und ist nicht mehr nervös.

„Es ist schwierig zu dolmetschen, ohne zu wissen, um was es geht“

Wie bereitest du dich auf den CSD vor?

Ich kontaktiere die Veranstalter, frage nach dem Ablauf des Bühnenprogramms: Gibt es Interviews, Reden, Poesie, Musikbeiträge? Ich lasse mir Reden zukommen und bereite mich zu Hause vor. Gern kommen Worte, Begrifflichkeiten oder Zusammenhänge vor, die ich so nicht kenne. Durch die Vorbereitung kann ich mir den Text durchlesen und eine entsprechende Gebärde raussuchen, sofern diese für mich unbekannt ist. Wenn es für ein englisches Wort keine adäquate Gebärde gibt, gucke ich: Was heißt es übersetzt, welche sinnvolle Gebärde kann ich nutzen. Ich schau mir viele Videos von Gehörlosen an, die Vorträge halten zu diesen Themen. Es gibt im Comedybereich Okan Seese, der vom Alltag als gehörlose Person erzählt. Seese ist Teil der queeren Community. Er verwendet Gebärden aus dem queeren Bereich, die wir als Dolmetschende nicht kennen oder anders gebärden würden. Diese Gebärden sind wichtig, weil sie in der Community gefestigt sind, verstanden werden und passender sind. Ich gucke mir auch auf internationaler Ebene Videos an: Wie werden bestimmte Begriffe von der Gehörlosengemeinschaft umgesetzt? Wie gebärde ich heterosexuell, bi, homosexuell, intersexuell, binär und nicht-binär und so weiter. Das gibt es ein großes Spektrum von spezifischen Vokabeln. Da ich regelmäßig auf queeren Veranstaltungen dolmetsche, kenne ich diese Begriffe. Wenn ich eine politische Rede habe, muss ich das Thema kennen, um mich inhaltlich darauf vorbereiten zu können. Geht es um queere Geflüchtete oder um das Transsexuellengesetz? Es schwierig zu dolmetschen, ohne zu wissen, um was es geht.

Wie ist das allgemein mit Modewörtern, Jugendsprache und Ausdrücken aus verschiedenen Subkulturen? Die sind ja oft schnelllebig.

Das ist das Gleiche wie in der Lautsprache. Zu Beginn der Corona-Pandemie kannte auch niemand den Begriff „Corona“. Gibt es neue Wörter, überlegen sich Leute aus der Gehörlosen-Community passende Gebärden. Die werden dann im Laufe der Zeit integriert. 2011 gab es viele Infektionen mit dem Bakterium „EHEC“. Anfangs haben einige Gehörlose die Gebärde für „Ehe“ verwendet und für EHEC das C „angehängt“. Als der Euro eingeführt wurde, hat man zunächst das komplette Euro-Zeichen in der Luft nachgezeichnet. Heutzutage zieht man einfach den Doppelstrich in der Mitte nach. Gebärden verändern sich wie die Sprache.

Gebärdensprachdolmetscher sind neutral 

Diversitätssensible Sprache verhindert Diskriminierung. Was machst du, wenn das N-Wort fällt?

Das muss ich leider übernehmen und dolmetschen, auch wenn ich damit nicht konform gehe. Als Dolmetscher bin ich neutral. Wenn ich etwas anders dolmetsche, verändere ich die Ausgangssprache. Das ist nicht meine Aufgabe. Das heißt: Auch wenn der Text nicht meinem Weltbild entspricht, muss ich ihn letztendlich akzeptieren und so dolmetschen. Sonst bin ich nicht neutral. Und das geht nicht.

Es gibt eine Diskussion um den Begriff „gehörlos“. Manche stört, dass er ein Defizit ausdrückt und bevorzugen „taub“. Wie denkst du da drüber?

Man sagt, dass im medizinischen Sinne der Begriff „gehörlos“ ein Defizit ausdrückt. Ich verwende „gehörlos“ und „taub“. Die Begrifflichkeit „taubstumm“ sollte vermieden werden. Das ist ein veralteter Begriff, der vor 40 Jahren schon nicht korrekt war, aber leider noch heute von hörenden Mitmenschen genutzt wird. Manchmal verwende ich das englische „Deaf“. In manchen Situationen bleibe ich sehr allgemein und rede von Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung. Es gibt Leute, die sind schwerhörig, stark schwerhörig oder leicht schwerhörig, haben ein Cochlea-Implantat als Hörprothese, Hörgeräte und so weiter. Die sind weder „taub“ noch „gehörlos“, nutzen aber die Gebärdensprache.

Gehörlose sollten insgesamt sichtbarer sein als gleichwertiger Teil der Gesellschaft

Dennis Knorz

Musik ist ein wesentlicher Bestandteil des CSD. Übersetzt du auch Musiktexte?

Es war jahrelang gang und gäbe, dass Musikstücke gedolmetscht werden. Das ist richtig, gerade beim CSD werden Lieder gedolmetscht. Es gab vor einigen Jahren jedoch eine Bewegung aus der Gehörlosencommunity, die mit der Art und Weise nicht ganz zufrieden waren. Es wurde bemängelt, dass der Inhalt der Lieder gebärdensprachlich keinen Sinn ergibt beziehungsweise nicht verstanden wird. Findet auf der Bühne eine sehr impulsive Performance statt, bin ich als Dolmetscher „gezwungen“, das in meinem Auftreten auch so darzustellen. Ist das rockig, muss ich mich optisch ein bisschen rockig zeigen. Man darf aber nicht vergessen: Ich bin kein Performer. Ich kann auf der Bühne kein Musikstück nachstellen als Dolmetscher, weil ich kein Musiker bin. Hier wurde gegenüber Musikdolmetschenden zu Recht kritisiert, dass diese mit ihrer „Performance“ zu sehr im Mittelpunkt stehen und somit den kunstschaffenden Personen die Show stehlen. Deswegen habe ich mich vor einigen Jahren entschieden, keine Musikstücke mehr zu dolmetschen.

Gebärdensprache lernt man nur, wenn man sich öffnet

Gibt’s Veranstaltungen, die du nicht dolmetschst?

Ich dolmetsche nicht im religiösen Bereich oder auf Hochzeiten, Standesamt, Beerdigungen, Taufen. Poesie und Konzerte dolmetsche ich aus den genannten Gründen nicht. Zudem ist die Vorbereitung sehr zeitaufwendig und so weder für mich noch für den Vertragspartner wirtschaftlich. Der dritte Bereich ist das Dolmetschen bei Gericht, weil ich den Klienten häufig noch nicht kenne. Eine falsch gedolmetschte Aussage kann bei Gericht massive Auswirkungen für den Klienten haben, wenn ich diesen nicht oder schlecht verstehe. Auf der anderen Seite gilt bei Gericht eine eigene Sprache mit großem Vokabular, akomplexen Zusammenhängen und einem Paragrafendschungel. Hier fehlt oft das Vorbereitungsmaterial, man bekommt wenig Informationen, worum es überhaupt geht. Man kann nie genau abschätzen, wie lange der Einsatz dauert. Das können 30 Minuten sein, aber auch mal sechs Stunden. Allerdings arbeiten Dolmetschende ab einer Dauer von einer Zeitstunde zu zweit und wechseln sich ab. Es wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Konzentration beim Dolmetschen ab einer Stunde abnimmt, Inhalte weggelassen werden, sich Fehler einschleichen und die Qualität massiv leidet.

Was wünscht du dir für die Zukunft beim Thema Gehörlosigkeit?

Gehörlose sollten insgesamt sichtbarer sein als gleichwertiger Teil der Gesellschaft. Was mir immer auffällt, ist das Gehörlose das Stigma haben, von hörenden Menschen „bemitleidet“ zu werden. Dabei können sie alles – außer hören. Schön wäre, wenn es ein Verständnis dafür gäbe, dass Gehörlose über eine eigene Sprache und Kultur verfügen. Als Gebärdensprachdolmetscher höre ich oft: „Gebärdensprache würde ich auch gerne können.“ Man darf nicht vergessen, dass eine Sprache nur erlernt werden kann, wenn man sich mit dieser beschäftigt, sich mit solchen Personen austauscht, von denen diese genutzt wird. Daher wünsche ich mir, dass die Gesellschaft sich öffnet, um eine andere Sprache und Kultur kennenzulernen und beiträgt, Barrieren abzubauen.

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Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 08/2024 erschienen.

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