Hamburger des Monats – Der Hundertjährige Wilhelm Simonsohn

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Unkompliziert und aufgeschlossen: der 100-jährige Wilhelm Simonsohn (Foto: Ole Masch)

Es war ein aufregender Sommer für Wilhelm Simonsohn. Er bekam für seinen Einsatz als Zeitzeuge an Schulen das Bundesverdienstkreuz, nahm an einer Fridays-for-Future-Demo teil und wurde am 9. September 100 Jahre alt. Ein Gespräch über die Geschwister Scholl, die Sahara und einen Brief an Angela Merkel

Interview: Matthias Greulich
Foto: Jakob Börner

SZENE HAMBURG: Herr Simonsohn, vor einigen Wochen waren Sie auf Ihrer ersten Fridays-for-Future-Demonstration. Wie war’s?

Ganz wunderbar. Ich war mit meinen Töchtern, einem Enkel und zwei Urenkeln demonstrieren. Es war ein seltenes Bild, wie wir mit vier Generationen auf dem Hamburger Rathausmarkt saßen.

Mussten Sie lange überredet werden?

Absolut nicht. Fridays for Future ist ein Tritt in den Hintern unserer etablierten Parteien. Wir nehmen unsere Ressourcen stärker in Anspruch als es unsere Welt verkraften kann. Dabei gibt es Möglichkeiten, ohne fossile Brennstoffe auszukommen.

Mein Steckenpferd ist die Technologie Thermischer Solarkraftanlagen, um den steigenden Energiebedarf decken zu können. 1982 war ich mit meiner 2005 verstorbenen Ehefrau Liesel zum ersten Mal mit unserem Reisemobil zwischen Tunis und Agadir unterwegs. Als Saharafahrer habe ich erfahren, wie stark die Kraft der Sonne dort ist. Technisch ist das heute längst möglich und ich wünsche mir sehr, dass meine Enkel es bald erleben.

In Ihrem Buch „Ein Leben zwischen Krieg und Frieden“ ist ein Brief abgedruckt, den Sie an Frau Merkel geschrieben haben.

Zehn Jahre ist das jetzt her. Ich bat die Bundeskanzlerin darin, sich politisch für den Bau von Solarkraftwerken in der Sahara einzusetzen. Zur Beantwortung des Briefes ist Frau Merkel bisher leider noch nicht gekommen.

Sie sind durch eine Augenkrankheit fast erblindet und können keine Bücher und Zeitungen mehr lesen. Wie informieren Sie sich?

Mein Leib-und-Magen-Sender ist Phoenix. Ich verfolge fast jede Debatte aus dem Parlament, auch wenn der Bundestag nicht mehr das Niveau und den Esprit wie zu Zeiten eines Herbert Wehner hat.

Außerdem bringt mir ein ehrenamtlicher Bücherbote, er ist pensionierter Richter, regelmäßig Hörbücher aus der Bücherhalle vorbei. Das alles ist meine geistige Nahrung.

„Ich wurde als „Judenlümmel“ beschimpft“

Mit 100 Jahren besuchen Sie immer noch Schulen, um als Zeitzeuge aus Ihrem Leben zu berichten. Was sagen Sie den Schülern?

Wenn ich beispielsweise die Geschwister-Scholl-Stadtteilschule am Osdorfer Born besuche lautet mein Einleitungssatz: „Ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl, deshalb sitze ich hier vor Ihnen.“ Hans Scholl ist mein Jahrgang, Sophie Scholl war drei Jahre jünger. Vier Tage nachdem sie beim Auslegen von Flugblättern vom Hausmeister der Münchner Universität entdeckt worden waren, wurden sie verurteilt und getötet.

Ich rede in den Schulen von Europa. Dass ich in Sorge bin, dass unser Europa wieder Schlagseite kriegt. Dank dieses Europas leben wir seit 74 Jahren in Frieden. Es scheint für die jungen Menschen nicht alltäglich zu sein, dass ein Hundertjähriger vor ihnen steht. Aber ich langweile Sie doch nicht?

Absolut nicht. Als Sie so alt waren wie die Schüler, die Sie heute besuchen, sind Sie aus der Marine-Hitlerjugend ausgetreten.

Noch heute versetzt es mich in Erstaunen, dass ich als 15-Jähriger so handelte. Mein Vater war zur See gefahren und hatte die Begeisterung für alles Maritime in mir gefördert. Er dachte deutschnational, war Teilnehmer des Ersten Weltkriegs und ein überassimilierter Jude. Bei der Marine-Hitlerjugend wurde ich als „Judenlümmel“ beschimpft und wusste nicht, was los war.

Erst dann erfuhr ich, dass ich adoptiert und mein Vater Jude war. Er sagte immer: „Man weiß doch wie ich denke. Man wird mich nicht holen.“ Dann haben sie ihn im November 1938 abgeholt. Als er aus dem KZ Sachsenhausen zurückkam, war er ein gebrochener Mann. Er starb im November 1939 an den Folgen der Haft.

Zu diesem Zeitpunkt waren Sie bereits Wehrmachtssoldat und kämpften im Zweiten Weltkrieg.

Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen am 29. September 1939 in einem Motorrad mit Beiwagen ins zerstörte Warschau zu fahren. Der penetrante Geruch der menschlichen Leichen und der Kadavergeruch der Pferde haben mir das Elend eines Krieges erst so richtig ins Bewusstsein gebracht. Ich fühlte mich auf einen Schlag zehn Jahre älter und habe mir geschworen, niemals Bomben auf menschliche Siedlungen zu werfen.

„Durch meine Erlebnisse bei der Luftwaffe wurde ich zum Pazifisten“

Das konnte ich einhalten, weil wir nach der Pilotenausbildung als wertvolles menschliches Humankapital ein wenig mitbestimmen konnten, wo wir eingesetzt werden sollten. Ich wurde Nachtjäger, mit der etwas naiven Vorstellung, die Bombenangriffe auf deutsche Städte verhindern zu können.

Ich wurde zweimal abgeschossen. Drei weitere Male hielt der liebe Gott bei Bruchlandungen seinen Daumen zwischen Leben und Tod. Durch meine Erlebnisse bei der Luftwaffe wurde ich zum Pazifisten. Je stärker der zeitliche Abstand und der Abstand zu mir selbst wird, desto stärker wird diese Einstellung.

Für Ihren unermüdlichen Einsatz für die Demokratie haben Sie im August das Bundesverdienstkreuz bekommen.

Es war eine sehr schöne Veranstaltung im Turmzimmer des Rathauses. Schulsenator Ties Rabe hat eine mitfühlende Rede gehalten. Er vergaß auch nicht, von einer Begegnung nach einem Schulbesuch zu berichten.

Was war passiert?

Ich bin mittlerweile geschrumpfte 1,80 Meter groß. Eine mit 15 Jahren ähnlich große Schülerin kam zu mir und sagte: „So einem Menschen wie Ihnen bin ich noch nie begegnet.“ Es sind diese kleinen Glücksgefühle, die mein Leben noch lebenswert machen.


Szene-Oktober-2019-CoverDieser Text stammt aus SZENE HAMBURG, Oktober 2019. Titelthema: Neu in Hamburg. Das Magazin ist seit dem 28. September 2019 im Handel und zeitlos im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 


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