Hamburger des Monats – Poetry Slammer Claus Günther

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Claus Günther in seinem Arbeitszimmer in Stellingen (Foto: Matthias Greulich)

Wenn Claus Günther vom Krieg spricht, hört ihm ein junges Publikum bei Poetry Slams oder in Schulen konzentriert zu. Am 5. April wurde Deutschlands ältester Slammer 89 Jahre alt. Ein Gespräch über eine verpasste Stadtmeisterschaft, die „Reichspogromnacht“ in Harburg und was für ihn echter Luxus bedeutet

Interview: Matthias Greulich

SZENE HAMBURG: Claus Günther, was zeichnet einen guten Poetry Slammer aus?

Claus Günther: Um für mich zu sprechen: Dass ich immer noch Anklang finde. Nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den anderen, die mit mir zusammen antreten. Beim monatlich stattfindenden Themenslam im Literaturcafé Mathilde war ich im vergange­nen Jahr elf Mal. Und neun oder zehn Mal habe ich den ersten Platz gemacht. Das ist mein Lebenselixier.

Wo sind Sie noch zu sehen?

Ziemlich regelmäßig in der Auster Bar in Eimsbüttel. Mehr schaffe ich körperlich in meinem Alter nicht. Ab und zu kommt meine Frau Ingrid mit und eine gemeinsame Freundin. Meine Frau ist meine beste Kritikerin. Wenn ich ihr etwas vortrage und sie „geht so“ sagt, muss ich mich noch mal ranset­zen. Aber wissen Sie, warum ich bei den Slammern als „coole Socke“ gelte?

Nein, bitte erzählen Sie.

2018 hatte mich Thomas Nast von der Mathilde für die Hamburger Stadt­meisterschaften im Poetry Slam nominiert. Eines der Halbfinale, zu dem ich antrat, fand im Grünen Jäger statt. Ich sah mich dort zwei ernsthaften Konkurrenten gegenüber, wurde aber vom Publikum zum Sieger gekürt. Also war ich im Finale, doch das fand aus­ gerechnet an einem Datum statt, an dem ich zum Check in einer Klinik angemeldet war – mit Übernachtung. Daher musste ich absagen.

„Ich habe mich zum Glück von den überwältigten Kriegserlebnissen befreit“

Claus Günther

Was sind Ihre Lieblingsthemen beim Slammen?

Normalerweise sind die Menschen bei den Slams auf Heiterkeit einge­stimmt. Ich bringe aber auch ernste Sachen, die gerade in der heutigen Zeit zum Nachdenken anregen. So war ich Ende Februar bei einer Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bil­dung in der Zentralbibliothek am Hüh­nerposten. Dort habe ich mein Gedicht „Gestern war noch Krieg“ vorgetragen.

In vielerlei Hinsicht bin ich ein aus­gesprochener Spätzünder. Ich denke, dass das mit unbewältigten Kriegserlebnissen zu tun hat. Aber davon habe ich mich zum Glück befreien können.

In Ihrem 2016 erschienenen Buch „Heile, heile Hitler“ beschreiben Sie, wie Sie als Siebenjähriger die „Reichspogromnacht“ in Harburg, wo Sie aufgewachsen sind, erlebt haben.

Mein Vater hat eine zumindest un­rühmliche Rolle gespielt. Er war an die­sem Abend Fahnenträger der SA und hat die Synagoge abgesperrt, als sie ge­plündert wurde. Wenn ich meinen 1972 verstorbenen Vater nach dieser Zeit fragte, hat er aus Scham geschwiegen. Ich habe ihn nicht zum Reden bringen können, da ging es mir wie vielen aus meiner Generation. Ich habe lange ge­ braucht, um die Rolle meines Vaters in der Nazizeit zu akzeptieren.

Versöhnt hat mich mit ihm, als ich ein Dokument fand, das belegte, dass er als Verwal­tungsangestellter im besetzten Polen in Chrzanów zahlreiche Reisepässe an jüdische Menschen ausgestellt und ihnen zur Ausreise verholfen hat. Das war durch seinen Vorgesetzten gedeckt. Viele Jahre später fragte mich mein Schwiegersohn: „Hast du dir das mal auf der Karte angeschaut?“ Nein, sagte ich und wir sahen, dass Chrzanów nur etwa 20 Kilometer von Auschwitz – auf polnisch: Oświęcim – entfernt liegt.

Mir fiel schlagartig ein, wie ich als Zehn­jähriger ins Wohnzimmer gestürmt war, als mein Vater Heimaturlaub hatte. Meine Eltern unterbrachen ihr Ge­spräch mitten im Satz. Sie wirkten wie Schulkinder, die man bei etwas Ver­botenem ertappt hatte. Ich gehe davon aus, dass mein Vater gewusst hat, was in Auschwitz passierte.

Seit 1997 treffen Sie sich mit anderen älteren Hamburgern in der Zeitzeugenbörse.

Es ist eine offene Gruppe. Wir tref­fen uns zweimal im Monat und gehen viel in Schulen, um über unsere Erlebnisse zu berichten. Ich bringe dann immer einen echten Bombensplitter mit, den ich bei den Schülern herum­ gehen lasse.

Das Metallstück ist etwa 20 Zentimeter lang und ziemlich schwer. Wie reagieren die Schüler?

Sie gucken den Splitter mit großen Augen an. Das ist etwas anderes, als den Krieg im Internet oder bei Ballerspielen zu erleben. Viele Lehrer schreiben uns hinterher, dass sie ihre Klasse noch nie so konzentriert wie bei unseren Be­suchen erlebt haben. Die Schüler stellen uns viele Fragen, manchmal auch kritische. Zum Beispiel, wie wir unsere Rolle in der Nazizeit heute sehen.

Bei der Zeitzeugenbörse treffen Sie den 100-jährigen Wilhelm Simonsohn, einen ihrer Vorgänger in dieser Rubrik als „Hamburger des Monats“. Kürzlich waren Sie beide bei einer Fernsehaufzeichnung mit ihrem jungen Poetry Slam-Kollegen Michel Abdollahi in dessen Sendung „Der deutsche Michel“ zu sehen.

Das war ganz witzig. Herr Abdol­lahi ist sehr charmant, leider habe ich ihn bislang noch nie auf einem Poetry Slam getroffen. Wir wurden in einer Villa in Hohenfelde gefilmt. Es ging um das Thema „Luxus“. Ich sagte, welcher Luxus es für mich ist, dass wir seit fast 75 Jahren in Frieden leben. Und dass ich mit meiner Frau in den 1950er Jahren in einem Kino in Harburg zwei Mark extra gezahlt habe, wenn wir etwas Luxuriöses erleben wollten.

Was haben Sie Extravagantes dafür bekommen?

Wir durften den Film in der Rau­cherloge sehen.

zeitzeugen-hamburg.de; „Heile, Heile Hitler“, verlag.marless.de


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Mai 2020. Das Magazin ist seit dem 30. April 2020 im Handel und  auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 

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