Die „Wortgefechte-Reihe“ des kleinen Sprechwerks beeindruckte in der vergangenen Saison. So auch das Stück „Im Ausnahmezustand“ über eine geistig verdorrte Elite
Herauszuheben ist die mutigen Stückauswahl und der großartigen Umsetzungen mit minimalen Mitteln und konsequenter Durchführung, (fast) ohne Förderung.
„Du musst es in dir wiederfinden, sonst sind wir verloren. Und fallen Tausende Meter in die Tiefe, wo wir zappeln und schreien und schreien, bis uns die Sonne das Hirn wegfrisst“, sagt die namenlose Frau (Catharina Fleckenstein) zu ihrem Mann, als dieser durch einen Burn-out seinen Arbeitsplatz in Gefahr bringt – und die Existenz der gesamten Familie. Denn in dem Stück „Im Ausnahmezustand“ von Falk Richter droht bei Jobverlust der Rauswurf aus der „Gated Community“, eine abgeriegelte Siedlung für ausgewählte Mitglieder, die soziale Elite, abgetrennt durch einen Zaun vom „Draußen“, wo der gesellschaftliche Abfall lebt.
Von dort haben es vor zwanzig Jahren der Mann (Tom Pidde) mit seiner Frau in die vermeintliche Sicherheit innerhalb des Zaunes geschafft. Seitdem haben sie sich an die ungeschriebenen Gesetze der Community, Produktivität und Anpassung, gehalten – bis jetzt. Der Mann funktioniert nicht mehr und die Teenager-Tochter (Ines Nieri) wird aufmüpfig. Mit allen Mitteln versucht die Frau ihren sozialen Status aufrechtzuerhalten und entpuppt sich unter ihrem biederen Äußeren als paranoide Tyrannin: Ihrem Mann empfiehlt sie einen Seitensprung, um seine Energie aufzutanken und nachts legt sie sich unter das Bett ihrer Tochter, um zu belauschen, was diese im Schlaf spricht.
Regisseurin Frederike Barthel dokumentiert den Zerfall einer Familie. Als das Heile-Welt-Konstrukt gestört wird, brechen die Bedürfnisse und Ängste des Einzelnen, die seit langer Zeit unter der Oberfläche gären, hervor. Das Familienleben wird zur Farce und Vater, Mutter, Kind zu Feinden. Die darüber einsetzende Sprachlosigkeit innerhalb der Familie wird über unvollendete Satzfragmente im Text transportiert (und hervorragend vom Ensemble umgesetzt), die innere Kapitulation vor der eigenen Unzulänglichkeit durch das Abnehmen der Perücken.
Klug inszeniert mit kreativen Kniffen, zeichnet das Stück die Familie in ihrem Mikrokosmos als Abbild unserer in Aufruhr geratenen Gesellschaft, und die Community als Metapher für das Leistungssystem. Auch kann man gedanklich den Bogen zur heutigen Flüchtlingssituation schlagen. All jene, die von draußen am Zaun rütteln, um reingelassen zu werden und Panik bei der Wohlstandsgesellschaft auslösen. Neunzig Minuten, die nachwirken.
/ Kritik von Hedda Bültmann erschienen 02/2016 in SZENE HAMBURG
Sprechwerk, Premiere: 8.1.2016
Foto: Stefan Malzkorn