Pflanzen, die man hegt und pflegt, gedeihen in der Regel prächtig und werden von Jahr zu Jahr größer. So auch das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel, für dessen künstlerisches Profil seit 2013 András Siebold verantwortlich zeichnet. „Wir sind kontinuierlich gewachsen in den letzten Jahren und haben das Potenzial der Hallen und des Geländes immer mehr ausgereizt“, freut sich der deutsch-schweizerische Dramaturg und Kurator, der auch in diesem Jahr wieder die Elite der popkulturellen Avantgarde nach Hamburg eingeladen hat.
Mehr als 150 Veranstaltungen, darunter 29 Bühnenarbeiten mit fünf Uraufführungen erwarten die Besucher vom 9. bis 27. August 2023 auf Kampnagel und an weiteren Orten der Stadt. „Zum ersten Mal haben wir auch Ausstellungen in allen drei großen Museen: in der Kunsthalle, in den Deichtorhallen und im Kunstverein“, unterstreicht Siebold die Spartenvielfalt des Festivals, die von Theater, Performance, Tanz und Konzert bis zur Lesung, Installation und bildender Kunst reicht.
Sport und Migration beim Internationalen Sommerfestival
Gleich zur Eröffnung untersucht das Kollektiv (LA)HORDE – das auch die Choreografie für Madonnas aktuelle Welttournee kreierte – zusammen mit dem 16-köpfigen Ballet national de Marseille in „Age of Content“ den Einfluss von Actionfilmen, Tiktok-Choreografien und Videospielen auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers.
Im Ausblick auf die Fußball-Europameisterschaft 2024 wird das Thema Sport diesmal großgeschrieben. Während die Belgierin Miet Warlop in „One Song“ mit ihrer Gruppe aus dem Akt des Musizierens ein atemberaubendes Sportspektakel macht, debütiert die ebenfalls aus Brüssel stammende preisgekrönte Nachwuchsregisseurin Yasmine Yahiatene beim Sommerfestival mit ihrem Stück „La Fracture“. Darin verknüpft sie ihre eigene familiäre Migrationsgeschichte mit jener des französischen Fußballprofis „Zizou“.
Noch mehr Sport und Superstars
Um das runde Leder dreht sich auch Ahilan Ratnamohans Theaterproduktion „Josse Jnr.“. Der sri-lankisch-australische Choreograf und Performancekünstler kam mit dem Traum von einer Fußballkarriere nach Europa, spielte als Profi in Deutschland, Schweden und den Niederlanden, bevor er sich dem Theater zuwandte. Die Uraufführung von „Josse Jnr.“ erzählt von Migrationsbewegungen und dem Aufstiegsversprechen, die mit dem Fußballsport verbunden sind, sowie von den Machtverhältnissen, die mit dem Lernen einer neuen Sprache in einem fremden Land einhergehen. „Außerdem kreiert Ahilan mit den Bewegungen des Fußballspiels eine neue Tanzform. Die ,Klapping Initiation‘ findet auf dem Fußballfeld des FC Sternschanze statt, so holen wir auch Leute ab, die den Weg ins Theater noch scheuen“, berichtet Siebold.
Ein bisschen nach Theatersport klingt auch die Produktion „Good Sex“ der britisch-irischen Gruppe Dead Centre. Das Stück untersucht zum einen, wie Menschen, die sich noch nicht gut kennen, Intimität aufbauen. Es fragt aber auch, wie Schauspieler mit körperlicher Nähe umgehen. „Es gibt einen sogenannten Intimitätskoordinator auf der Bühne, der zwei Darsteller:innen anleitet. Das sind jeden Abend andere, und sie improvisieren, weil sie den Text nicht kennen, sondern über einen Knopf im Ohr hören und dann nachsprechen“, erläutert Siebold das Experiment. „Dafür haben wir ein Superstar-Ensemble engagiert: Bardo Böhlefeld vom Wiener Burgtheater, Lisa Hagmeister vom Thalia Theater, Paul Behren vom Deutschen Schauspielhaus, Mark Waschke von der Berliner Schaubühne – Leute, die man von den großen Schauspielhäusern oder vom Film kennt.“
Theater aus aller Welt und Gäste aus Wien
Keine Unbekannte ist auch die französische-österreichische Choreografin Gisèle Vienne, die sich in ihren Arbeiten – von denen fast alle auf Kampnagel zu sehen waren – mit psychischen Abgründen befasst, oft eingebettet in eine traumatische Familiengeschichte. Auch in „Extra Life“ wird Vienne wieder unter ausgeklügeltem Einsatz von Licht und Musik tief in die menschliche Seele blicken. Eine etwas andere Seelenlandschaft breitet das südafrikanische Kollektiv Empatheatre mit dem Theaterthriller „Isidlamlilo (The Fire Eater)“ aus. In einer Solo-Performance verkörpert die renommierte TV-Schauspielerin Mpume Mthombeni eine ehemalige Auftragskillerin, die im Rückblick auf ihr früheres Leben einen kafkaesken Albtraum durchlebt.
Kein wirkungsmächtigeres und aufregenderes Stück im deutschen Theater
András Siebold zu Florentina Holzingers Wasserspektakel „Ophelia’s Got Talent“
Einen Albtraum könnte man auch erwarten, wenn sich die Wiener Theatergruppe Nesterval mit „Die Namenlosen“ in Hamburg zurückmeldet – diesmal in der Kakaospeicher-Halle in der HafenCity – und sich mit der Verfolgung von Homosexuellen während der Nazizeit befasst. Siebold verspricht jedoch ein „extrem unterhaltsames Spiel, bei dem man gar nicht merkt, wie die Zeit vergeht, obwohl es um ein ernstes Thema geht“. Nesterval involviert die Zuschauenden, ohne dass diese selber mitspielen müssen. Das fühle sich an wie ein „Parcours durch ein Filmset“. Die Aufführungen der Wiener Vorstellungen waren binnen Minuten ausverkauft. Viele Wiener hätten sich jetzt schon Karten für die Hamburger Vorstellungen gesichert. Frühzeitig Karten sichern sollte man sich auch für Florentina Holzingers Wasserspektakel „Ophelia’s Got Talent“, das zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. „Man findet momentan wohl kein wirkungsmächtigeres und aufregenderes Stück im deutschen Theater“, schwärmt Siebold. Mit Houdini-Tricks, Ballett-Bezügen und kühnen Stunts extrahieren die Performancekünstlerin und ihre 21-köpfige Crew eine Empowerment-Strategie aus der Kulturgeschichte der Wasserwesen.
Viele Spielorte, Mut und mehr Geld
Mutig könnte man auch Carolina Bianchis Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen nennen. In „The Bride and the Goodnight Cinderella“, das im Juli seine Uraufführung beim Festival d’Avignon feierte, nimmt die brasilianische Performerin K.-o.-Tropfen auf der Bühne und überlässt die Kontrolle über ihren Körper den anderen. Ein radikaler Akt in einem Stück, das für Siebold „aus dem Herz der finsteren Gegenwart kommt“, wenn man etwa an die aktuellen Beschuldigungen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann denkt, oder die noch ungeklärten Vorfälle auf einem Roland-Kaiser-Konzert in Cottbus. Trotz der vielen großen Namen betont Siebold den niedrigschwelligen Charakter des Sommerfestivals, auf dem man jeden Abend im Avant-Garten kostenlos Lesungen und Konzerte erleben, im Migrantpolitan das Solicasino besuchen und am Wochenende an Kopfhörerperformances teilnehmen kann. Auch in den Hallen und an anderen Spielorten locken zahlreiche Konzerte. So stellt die Hamburger Avantgarde-Pop-Band Station 17 ihr neues Album vor, in der St. Gertrud Kirche führen der norwegische Saxofonist Bendik Giske und drei Tage später der Gospel-Chor The Voices of Creation in spirituelle Sphären. The Sun Ra Arkestra unterfüttert den Big-Band-Jazz mit den afrofuturistischen Visionen seines Namensgebers, während in Kooperation mit dem Elbphilharmonie Sommer auch drei Konzerte im Großen Saal der Elbphilharmonie anstehen: Nach Techno-Veteran Jeff Mills und Perkussionist Mulatu Astatke – dem „Erfinder des Ethiojazz – entfaltet das belgische Vokalensemble Graindelavoix mit einer zwölfstimmigen Messe von Antoine Brumel den Klangkosmos der Renaissance.
Den – auch finanziell – enormen Kraftakt, um das Sommerfestival zu stemmen, konnte der Veranstalter Kampnagel nur bewältigen, weil die aufgestockte Förderung der Stadt die inflationäre Kostensteigerung kompensiert. „Ein Festival wie das unsere ist heute 300.000 Euro teurer als noch vor vier Jahren“, sagt Siebold. Geld, das allem Anschein nach gut angelegt ist.
Das Internationale Sommerfestival Kampnagel läuft 2023 vom 9. bis zum27 August.
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 08/2023 erschienen.