Regisseur Nicolas Stemann: „Ich entwickle meine Energie aus den Widerständen“

Mit seiner auf vier antiken Dramen basierenden „Orestie I-IV“ untersucht Regisseur Nicolas Stemann am Thalia Theater die Möglichkeiten, den ewigen Kreislauf von Gewalt und Rache zu durchbrechen
Mit seinem neuen Stück „Orestie I-IV“ will Regisseur Nicolas Stemann den Kreislauf von Gewalt und Rache durchbrechen (©Diana Pfammatter)

SZENE HAMBURG: Nicolas, bis zur letzten Spielzeit warst du gemeinsam mit Benjamin von Blomberg Co-Intendant am Schauspielhaus Zürich. Ursprünglich kommst du aber aus Hamburg. Wann hast du zuletzt hier inszeniert?

Nicolas Stemann: Am Thalia Theater habe ich vor zehn Jahren Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ inszeniert. Jetzt wieder vor Ort zu sein, war sehr schön, weil viele Leute von damals noch da sind und sich alles sehr vertraut angefühlt hat.

Du bist nicht nur Regisseur, sondern auch Musiker. Stimmt es, dass du dich neuen Stücken zuerst musikalisch näherst?

Ich probe immer mit Klavier, Keyboards oder Synthesizern, wodurch ich schnell Atmosphären herstellen und mit den Schauspielern kommunizieren kann. Von daher ist Musik ein wichtiges Arbeitsmittel für mich, das mir den sinnlichsten Zugang zu Theater und Texten ermöglicht. Ich schreibe auch immer öfter selbst die Musik für meine Inszenierungen wie die Gesangsstücke und Chöre der „Orestie“. Für das Stück habe ich aber auch mit einer Band um den Musiker Laurenz Wannenmacher zusammengearbeitet.

Du hast die „Orestie“ im Sommer bereits bei den Salzburger Festspielen aufgeführt. Wird das Hamburger Publikum eine andere „Orestie“ sehen? Deine Arbeiten entstehen ja oft als Work in Progress.

Ich mag es, wenn die Arbeit in Bewegung bleibt und Veränderungen stattfinden. Von daher markiert die Premiere für mich nicht den finalen Punkt. Wenn man nur damit beschäftigt ist, das, was gut war, zu wiederholen, dann erlebt man Theater eigentlich nur als Defizit, weil immer irgendetwas schiefgehen kann. Genau darin besteht aber das Vitale am Theater, seine ganz eigene Qualität, die andere Erzählmedien wie zum Beispiel der Film nicht haben.

Orestie von Nicolas Stemann als eine Reise durch fünf Jahrzehnte 

Die „Orestie“ von Aischylos ist eine Trilogie, hat also drei Teile. Deine „Orestie“ hat vier. Woher dieser Zuwachs?

Wir bedienen uns nicht nur bei Aischylos, sondern haben vier Stücke von den griechischen Tragödiendichtern Aischylos, Sophokles und Euripides zusammengestellt. Dabei erzählen wir nicht nur chronologisch die Geschichte der „Orestie“, sondern begeben uns auf eine Reise durch die 50 Jahre, in denen diese Stücke entstanden sind. Es ist interessant, dass in diesem blutrünstigen Teufelskreis aus Schuld und Rache nur bei Aischylos die Frage in den Vordergrund rückt, wie man das ewige Morden beenden kann.

Wenn man nur damit beschäftigt ist, das, was gut war, zu wiederholen, dann erlebt man Theater eigentlich nur als Defizit

Nicolas Stemann

Und wie?

Indem man die alten göttlichen Prinzipien von Blut und Rache in die Hände der Menschen legt, damit diese sich auf demokratische Art und Weise dafür entscheiden, auf weitere Racheakte zu verzichten. Das hat er 458 vor Christus geschrieben. Athen erlebte die Blüte seiner Demokratie, und Aischylos war Teil dieser Bewegung und sehr optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens. Bei Euripides klingt das 50 Jahre später alles ganz anders.

Inwiefern?

Auch bei ihm wird am Ende über das Schicksal von Orest und Elektra, die ihre Mutter Klytämnestra ermordet haben, abgestimmt. Aber alle sind sehr korrupt, und es setzt sich immer der beste Redner durch, nicht derjenige, der inhaltlich kluge Sachen sagt. Die Versammlung kommt zu dem Ergebnis, dass Orest und Elektra gesteinigt werden sollen. Daraufhin laufen die beiden Geschwister gemeinsam mit ihrem Freund Pylades Amok. Sie stürmen Helenas Palast, das Haus der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und drohen damit, ihre Tochter zu ermorden, sofern sie nicht freies Geleit kriegen.

Warum liest sich das Ende der „Orestie“ bei Euripides, 50 Jahre nach Aischylos, so anders?

Tatsächlich ist zur Zeit von Euripides die attische Demokratie schon wieder im Niedergang begriffen und wird von großen Krisen und Kriegen heimgesucht. Das scheint mir interessant, wo wir ja aktuell mit ähnlichen Fragen bezüglich der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens konfrontiert sind. Ich möchte es gar nicht werten, aber es ist doch bemerkenswert, dass Pazifismus plötzlich kein positiver Wert mehr ist, sondern eine diskussionswürdige und für viele zutiefst zweifelhafte Haltung. Das macht diese Stücke auf einmal wieder so aktuell. Diese Analogien ergeben sich praktisch von selbst, ohne dass ich da mit irgendwelchen Regietheaterhämmern nachhelfen musste.

Diese Analogien ergeben sich praktisch von selbst, ohne dass ich da mit irgendwelchen Regietheaterhämmern nachhelfen musste

Nicoals Stemann 

Nicolas Stemann: „Das Stück kommt mittlerweile ohne mich klar“ 

Popkultur trifft antike Tragödie: „Orestie I-IV“ ist eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen Foto: Salzburger Festspiele (©armin smailovic)

Apropos Regietheater: Dieser Begriff wird ja immer wieder von Menschen, die sich sogenannte werktreue Inszenierungen wünschen, ins Feld geführt, um Kritik zu üben an einer Form von Theater, die Dramentexte nur noch als Steinbruch verwendet …

Da gibt es aber, was meine Person betrifft, ein Missverständnis. Im Ernst und ohne Ironie: Ich bin doch ein wirklich werktreuer und größtenteils sogar texttreuer Regisseur. Ich weiß gar nicht, ob es noch viele Regisseure im gegenwärtigen Theater gibt, die ähnlich genau am Text arbeiten. Trotzdem habe ich mit diesen Kampfbegriffen und dieser sehr unscharfen Debatte zu tun, seit ich vor fast dreißig Jahren begonnen habe, Theater zu machen. Dann ist irgendwann die „Postdramatik“ dazugekommen, und seit Zürich gelte ich auch als Vertreter einer „woken“ Theaterrichtung. Das ehrt mich sicher – ist aber völlig absurd. Letztlich entbindet es die Leute, die so was schreiben, davon, ihre Arbeit zu tun und einfach mal hinzugucken, was denn da wirklich passiert, anstatt es nur auf irgendwelche Schlagworte zu reduzieren.

Du nimmst die Texte der antiken Dichter also ernst, obwohl auch Trash und Klamauk zu deinen Stilmitteln gehören?

Auf jeden Fall. Sehr! Im Fall der „Orestie“ habe ich die Original-Texte zunächst einmal komplett neu ins Deutsche übertragen – und zwar alles im Versmaß, wobei ich versucht habe, es trotzdem möglichst klar und konkret zu halten. Dadurch entsteht eine ganz eigene sprachliche Form. Erst dann habe ich die Stücke neu zusammengestellt – und dabei auch noch ein paar eigene Texte geschrieben – zum Beispiel einen Monolog, in dem Agamemnon erklärt, warum er eigentlich seine Tochter ermordet hat und wie es ihm dabei ging. Einen solchen Text gibt es in keinem der Stücke. Bei den Versatzstücken aus den griechischen Dramen inszeniere ich aber nichts, was nicht im Text steht oder seine Daseinsberechtigung aus ihm zieht. Ich habe auch zunehmend große Skrupel zu streichen. Viel lieber entwickle ich meine Energie aus den Widerständen, mit denen ich umgehen muss, wenn ich nicht streiche, wenn es eigentlich zu lang und kompliziert wird.

Warum stehst du in deinen Inszenierungen so oft selbst auf der Bühne?

Ich mag es, mich dem, was da angezettelt wurde, auch auszusetzen, gewissermaßen leibhaftig dafür einzustehen und mich nicht nur hinter den Schauspielern zu verstecken. Außerdem ist es im Sinne des Work-in-Progress-Gedankens – normalerweise reist man als Regisseur ja ab nach der Premiere. Auch ist auf der Bühne zu stehen eigentlich eine viel bessere Regie-Position als das typische frontale Draufgucken: Man macht mit, anstatt zu kontrollieren. Es ist ja überhaupt nicht mein Anspruch, die absolute Kontrolle zu haben. Ich war total verwundert, als eine Kritikerin schrieb, ich wolle offensichtlich alles bis ins Letzte kontrollieren. Das ist nun wirklich das Gegenteil von dem, was mich dabei umtreibt, und ich verstehe überhaupt nicht, wie man so falsch gucken kann. In Hamburg werde ich aber wohl nur noch bei den ersten Vorstellungen dabei sein – das Stück kommt mittlerweile ohne mich klar.

„Orestie I-IV“ im Thalia Theater ab dem 30. Oktober 2024 (Premiere), 31.10. und an weiteren Termine

Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 10/2024 erschienen.

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