Interview: Sabine Peters über ihren neuen Roman

Foto: Philipp Otto Runge, Die Huelsenbeckschen Kinder, 1805-1806 (Foto: Philipp Otto Runge / Hamburger Kunsthalle)

Die Hamburger Schriftstellerin Sabine Peters webt in ihrem Roman „Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt“ einen Mosaikteppich aus Szenen einer Kindheit mit religiösen und literarischen Prägungen. Ein Gespräch über den Reichtum der Fantasie, abgestumpfte Erwachsene und Generationenkonflikte

Interview: Ulrich Thiele

SZENE HAMBURG: Sabine Peters, in Ihrem vorletzten Roman „Narrengarten“ geht es um desillusionierte Erwachsene im heutigen Hamburg. Nun um eine fantasiereiche Kindheit in der Provinz in den 60er und 70er Jahren. Was bewog Sie zu dem Sprung in die Vergangenheit?

Ich habe in Gesprächen mit Freunden gemerkt, wie leidenschaftlich ich werde, wenn das Thema Kindheit aufkommt.

Inwiefern?

Es wirbelt so viele Farben, Klänge, Tonfälle und Gerüche in mir auf. In meinem allerersten Buch, „Der Stachel am Kopf “, geht es am Anfang auch um Kindheiten. Aber auf eine sehr bittere Art und Weise. Ich hatte damals, mit Ende 20, den Anspruch, der Gesellschaft „die schöne Maske vom Gesicht zu reißen“. Inzwischen hat sich etwas bei mir verändert. Kindheit kann so ein reicher Fundus sein – nicht unbedingt autobiografisch, sondern Kindheit an sich. Weil wir in der Kindheit alles zum ersten Mal erleben. Entsprechend hat das Thema eine starke Leuchtkraft. Mich interessiert auch das Halb-Verstehen, das Nicht-Verstehen und dass man sich als Kind manchmal einen ganz falschen Reim auf bestimmte Sätze macht – darin steckt eine Fülle an Verwirrung, Verspieltheit und auch an Bedrohung.

Sie sagten, „nicht unbedingt autobiografisch“. Ihre Bücher werden oft autobiografisch gelesen. Stört Sie das?

Ja, das ärgert mich manchmal. Ich habe irgendwann diese Figur der Marie eingeführt, um die es immer wieder in meinen Büchern geht und die immer eins zu eins als Alter Ego gelesen wird. Bei dem Begriff „autobiografisch“ schwingt dieser Wahrheitsanspruch mit. Aber die Wahrheit des Erzählens ist doch etwas anderes. Fiktionen, Fantasien und Lügen sind manchmal produktiver in dem Versuch, sich der Wahrheit anzunähern, als dieses beißende „Wie war das genau?“.

Cover von Sabine Peters „Ein wahrer Apfel leuchtet am Himmelszelt“, Wallstein Verlag

„Besser du strickst, als Lügengeschichten zu schreiben. Du bist auf jeden Fall ein lausiger Historiker. Willst du mir weismachen, dass man Erinnerungen trauen kann?“, heißt es einmal. Welche Rolle spielt die Fiktion, wenn Sie über vergangene Zeiten schreiben?

Natürlich gibt es Daten und Fakten. Eine Kindheit in den 60ern auf dem Dorf ist objektiv nicht mit heute vergleichbar. Aber Erinnerung ist nichts Festes, sondern wandelbar. Und bei Fiktionen geht es um eine Art von Verwandlungsarbeit. Der Vater sagt in dem Buch irgendwann: „Diese alberne Wirklichkeit interessiert mich nicht.“ Er kann die Wirklichkeit nicht mit Daten erfassen, nicht mit dieser linearen Geschichtsschreibung, der Aneinanderreihung von Fakten und Ereignissen. Diese Kontinuität scheint mir ein Konstrukt, dem ich in der Literatur mit Zweifeln gegenüberstehe. Weil daran auch Kategorien wie Logik oder Entwicklung gebunden sind, auf die wir von früh an konditioniert werden.

Was stört Sie daran?

Der Reichtum und auch der Witz des Verwandelns werden dadurch versteinert. Wir verholzen im Laufe des Lebens, weil wir nicht mehr spielen und kein Gespür für Metamorphosen haben. Hubert Fichte hat sich einen Spruch von Empedokles auf seinen Grabstein gravieren lassen: „Denn ich war schon einmal ein Junge und ein Mädchen und ein Busch und ein Vogel und ein aus dem Meer springender wandernder Fisch.“ Genau deswegen fand ich es interessant, im letzten Teil des Buches, beim Blick in die Zukunft, alle Stricke reißen zu lassen und ins Surreale zu gehen. Mir war es wichtig, keine Kontinuität zu erfinden bezüglich Marie. Nach dem Motto: Wenn sie als Kind mit religiösen Bildern und Kultur überschüttet wird, dann entwickelt sich daraus logisch im Erwachsenenalter eine Schriftstellerin.

Die Kindheit wird im Rückblick oft verkitscht und idealisiert. Haben Sie Techniken der Distanznahme?

Ich bitte meine Erstleser und den Lektor immer, sie sollen Kitsch anstreichen. Aber ich glaube, ich bin eher spröde. Sie haben Recht, bei diesem Thema gibt es immer wieder Schönmalerei: Die Kindheit als das Unschuldige, das Reine, das Unbelastete und Freie. Mir ging es beim Schreiben darum, eine Situation zu finden oder erfinden, die das Schöne, die Freude, aber eben auch den Schrecken vorstellbar macht.

„Für die Generation meiner Eltern und Großeltern war das sittenlos und indiskret.“

Haben Sie ein Beispiel für den Schrecken?

Zum Beispiel die Geschichte beim Zahnarzt. Wo Marie – autoritätshörig wie sie gestrickt ist – brav den Mund aufmacht, aber bei dem Schwenkarm über ihr an die Szene aus „Der Bauer und der Windmüller“ von Wilhelm Busch denkt, als der Esel an der Mühle erhängt wird. Kinder sind in extremem Maße abhängig von Erwachsenen. Ich glaube, mit dieser Abhängigkeit hängt Maries Bereitschaft zusammen, zu glauben, dass die Erwachsenen sie aufhängen können, wenn sie wollen. Erziehung verläuft niemals gewaltlos. Man kann die Gewalt eindämmen, aber es gibt auch heute noch einen Vater- oder Mutterblick, bei dem Kinder erstarren. Und Kinder haben feine Antennen dafür, wenn der Tonfall anders wird.

Niemand schreibt über die Vergangenheit, ohne damit etwas über die Gegenwart zu sagen. Warum schreiben Sie 2020 über eine Kindheit in den 60ern und 70ern?

Einmal, weil sie eben ein faszinierendes Potenzial an Lebendigkeit hat. Ich schreibe aber nicht, um einen früheren Zustand wiederherzustellen oder abzubilden, sondern um ihm zu formen. Ich kann mit dem Material spielen, etwas durchstreichen, hinzufügen, es verwandeln. Das ist die fantastische Ebene.

Und die sachliche?

Junge Leute sagen mir oft, wie verwundert sie über die ältere Generation und bestimmte Verhaltensweisen sind. Das sind selten individuelle Verhaltensweisen, sondern welche, die von vielen Leuten mit der Muttermilch aufgesogen wurden. Wenn es gut geht, kann eine solche Beschäftigung mit der Kindheit auch bei jüngeren Menschen dazu führen, dass ihnen das Verhalten der Alten nicht absurd und idiotisch vorkommt, sondern dass es einen zeithistorischen Rahmen bekommt. In dem Buch beschäftige ich mich auch mit der Großmutter. Die ist Jahrgang 1886. Man muss sich mal vorstellen, was die alles mitgekriegt hat: Zwei Weltkriege, Wilhelminismus, Weimarer Republik, Faschismus, Wiederaufbau. Was machen diese Erfahrungen mit Menschen? Mir kamen die Alten als Jugendliche extrem verschlossen vor. In meiner Jugend wurde es schon mehr und mehr eine Tugend, dass man versuchte, möglichst offen zu sein. Für die Generation meiner Eltern und Großeltern war das sittenlos und indiskret. Wir fanden sie dafür verlogen. Dabei gab es in unserer Offenheit auch Hintertüren. Und man konnte ein Gegenüber in aller Offenheit plattwalzen.

„Schreiben heißt, ein Rätsel zu verstehen, ohne es zu lösen“

Sie sagten einmal, zu schreiben bedeute vor allem, zu warten. Worauf warten Sie?

Das Warten besteht in dem Versuch – das klingt hoffentlich nicht zu geheimnisvoll – in einen anderen Zustand zu kommen. Ich muss so viel Alltagszeug aus meine Ohren und Alltagssprache aus meinem Mund spülen. Und ich muss Zweifel und Skepsis betrachten und umrunden. Das Warten ist ein Horchen auf die Töne oder einen bestimmten Sprachduktus, den man plötzlich findet und mit dem man die Skepsis überwindet.

Wie ist Ihr Blick auf Religion?

Ambivalent. Ich glaube, Kinder, die damals entsprechend sozialisiert wurden, haben eine Fülle von Geschichten und schöner, reizvoller Sprache bekommen. Und durch diesen Gedanken, Gott oder den Göttern gefallen zu wollen, sind die schönsten Kirchen und Kunstwerke geschaffen worden. Zugleich sind da aber auch all die Gewalt, Regeln, Normen, Drohungen, denn Religion ist unvermeidlich grausam. Man kann versuchen, sie zu entgiften, aber dann verlöre sie auch für Kinder von ihrer Faszination. Man kann sagen: Religion besteht aus Geschichten. Und die Kinder in diesem Buch möchten diese Geschichten nachspielen. Und sie wollen nicht nur etwas vom Guten hören, sondern auch vom Bösen. Mit Geschichten finden sie ihren Umgang damit.

Wenn Sie die Rolle der Religion mit unserer Gegenwart in Deutschland vergleichen, was sehen Sie da?

Was ich heute beobachte, ist, dass viele Leute sich ihre eigene Religion mixen: hier eine Prise Buddhismus, da eine Prise Schamanismus. Vielleicht ist das nicht verkehrt; ich weiß nicht. Andere, die mit dem Jenseitsgedanken gar nichts anfangen können, suchen ihren Sinn in der reinen Gegenwart, im Fitnessstudio oder im Reisen. In meiner Kindheit hätte man zu dieser Einstellung gesagt: Du bist nicht hier, damit du dich von Gott bedienen lässt. Du bist dazu da, diesem Gott zu dienen und dich zu unterwerfen. Natürlich hat dieses repressive Denken Millionen Menschen ins Unglück getrieben.

2016 erhielt Sabine Peters den Italo-Svevo-Preis für „literarische Spielarten des ästhetischen Eigensinns“ (Foto: Jutta Schwöbel

Andererseits wurden die Ideale der Selbstverwirklichung auch längst pervertiert.

Ja, wenn die Welt, das Lebendige in dieser Welt, nur dazu da ist, um mir zu gefallen – das ist Neoliberalismus pur. Das Religiöse ist immer beseelt von dem Gedanken, dass es noch etwas außerhalb von mir geben mag. Das ist meiner Ansicht nach ein Gedanke, den man sich schon mal durch die Ohren ziehen lassen kann. Um dieses Lebendige außerhalb von mir auch zu achten und dessen Kostbarkeit zu würdigen. Ich mag den Satz: „Der Gärtner hegt den Garten. Und während er dies tut, hegt der Garten den Gärtner.“ Das finde ich so demokratisch, da ist kein Herrschaftsverhältnis, sondern eine gegenseitige Verflechtung mitgedacht.

Bei Ihnen geht es auch um Machtlosigkeit gegenüber der Vergänglichkeit. In Ihrem Roman wird das deutlich, als die Großmutter stirbt. Sie haben dazu mal gesagt, dass das Schreiben für Sie kein Verarbeiten, sondern ein Bearbeiten ist. Warum überhaupt schreiben, warum bearbeiten?

Weil man mit etwas nicht fertig wird und das auch überhaupt nicht will. Das wäre doch unerhört. Mit einer wichtigen Person möchte man nie fertig werden. Beim Schreiben geht es nicht darum, ein Rätsel zu lösen. Es geht darum, ein Rätsel zu verstehen, ohne es zu lösen – das ist die große Faszination und Freude am Schreiben. Schreiben ist eine Reaktion auf die Welt, es kommt aus einem Staunen über die Welt heraus. Man möchte die Welt nicht abbilden, sondern antworten, einen Ausdruck dafür finden, wie schön, schrecklich oder empörend etwas ist. Man möchte es nicht stehenlassen, sondern in Beziehung dazu treten.

In Peter Handkes „Lied vom Kindsein“ heißt es zum Schluss: „Als das Kind Kind war / warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum / und sie zittert da heute noch.“ Bei Ihnen heißt es über die erwachsene Marie: „Alle Kinderfreuden, alle Kinderschmerzen hatten ausgeschlagen und sie waren nun verwachsen, ausgewachsen oder zugewachsen.“ Gibt es also kein Zittern mehr?

Doch, das gibt es. Auch wenn die Schmerzen und Freuden zugewachsen sind, ist da noch eine Narbe oder ein Mal, unter dem die Kindheit steckt. Ich glaube schon, dass wir das Kind in uns verlieren und wir versteinern. Aber zugleich verflüssigen wir uns. Wenn es an das Eingemachte geht, in intensiven Gesprächen, in Streitigkeiten oder auch beim Schreiben, merkt man plötzlich wieder einen Vulkan in sich, der noch tätig ist. Und wenn jemand sehr beglückt ist, kann man im Gesicht des Erwachsenen sehen, wie er als Kind in entsprechenden Augenblicken aussah. Ich finde es auch nicht verkehrt, wenn man verschiedene Lebenszeiten gleichzeitig in sich trägt und sie etwas Fließendes sind.


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, August 2020. Das Magazin ist seit dem 30. Juli 2020 im Handel und  auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 

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