SZENE HAMBURG: Johan, Besuchern des Altonaer Theaters ist dein Gesicht spätestens seit der „Kempowski-Saga“ bekannt, in der du in allen vier Teilen als erzählende und spielende Hauptfigur auf der Bühne gestanden hast. Wie kam nach deinem Abschluss an der Schule für Schauspiel Hamburg im Jahr 2016 der erste Kontakt zum Altonaer Theater zustande?
Johan Richter: Ulrich Meyer-Horsch, der künstlerische Leiter unserer Schauspielschule, hat als Regisseur auch am Altonaer Theater gearbeitet und mich als Schüler sozusagen mitgenommen. So war das erste Stück, in dem ich mitspielte, „Der kleine Ritter Trenk“, der Startpunkt für weitere regelmäßige Anfragen. Da ich auch privat Interesse hatte, in Hamburg zu bleiben, habe ich die Angebote angenommen, und fühle mich inzwischen fast wie ein Ensemblemitglied, obwohl das Altonaer Theater ja kein festes Ensemble hat.
Für die Bühnenfassung von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ schlüpfst du in die Rolle des Ich-Erzählers Michael Berg, der in der Rückschau auf sein Leben blickt. Da kommen Erinnerungen an die „Kempowski-Saga“ auf …
Unsere Stückfassung löst sich von der Ich-Perspektive der Vorlage, indem die Erzähltexte auf das fünfköpfige Ensemble aufgeteilt werden. Dadurch entsteht eine ganz andere Dynamik. Das hat mich bei der ersten Leseprobe sehr positiv überrascht.
Wer hat die Theaterfassung erstellt?
Die Regisseurin und Autorin Mirjam Neidhart für die Uraufführung des Stücks an der Württembergischen Landesbühne Esslingen. Kai Hufnagel, der im April auch den Monolog „ZOV – Der verbotene Bericht“ für die Foyerbühne inszeniert hat, hat diese Fassung dann umgeschrieben.
„Der Vorleser“ im Altonaer Theater
Du arbeitest zum ersten Mal mit Kai Hufnagel zusammen?
Vor einem Jahr war er mein Spielpartner im vierköpfigen Ensemble von „A long way down“. Dass wir uns dort schon auf kollegiale Weise kennengelernt haben, wird unserer neuen Zusammenarbeit bestimmt guttun. Weil er selbst auch Schauspieler ist, glaube ich, dass er vieles mit uns zusammen entwickeln und nicht nur sein Ding durchklopfen wird.
Du spielst den 15-jährigen Michael Berg, der 1958 eine Affäre mit der 21 Jahre älteren Hanna Schmitz eingeht. Er liest ihr aus Büchern vor und hat Sex mit ihr. Hast du eher gejubelt oder geschluckt, als dir die Rolle angeboten wurde?
Ich kannte den Stoff vorher nicht und habe eher geschluckt, weil zwischen Hanna und Michael ein so großer Altersunterschied besteht und das im Roman eigentlich nicht kritisch reflektiert wird. Dass ihre Beziehung als romantische Liebesgeschichte dargestellt wird, empfinde ich als problematisch. Wobei später ja gezeigt wird, welche Auswirkungen diese Liebe, von der Michael sich niemals lösen kann, auf sein Leben hat.
Ein Schritt in etwas Neues, Unbekanntes ist immer ein guter
Johan Richter
Michael verliebt sich in eine Frau, von der er überhaupt nichts weiß …
Hanna gelingt es immer, die Dinge so zu drehen, dass er sich schuldig fühlt und sich vor ihr erniedrigt. Dass sie sich ihm nicht offenbart, ist Teil ihres Machtmissbrauchs.
Viele Jahre später trifft er Hanna zufällig wieder – angeklagt als ehemalige KZ-Wärterin in einem Kriegsverbrecherprozess. Was bewirkt dieser Moment in Michael?
Er versucht zu verstehen, warum Hanna getan hat, was sie getan hat. Sobald er aber versteht, kann er sie nicht mehr schuldig sprechen. So nimmt er die Schuld auf sich, weil er Hanna geliebt hat. Im Roman heißt es: „Wenn ich mit dem Finger auf sie zeige, zeige ich gleichzeitig auf mich“. Hier knüpft sich an die individuelle Schuld die Frage der Kollektivschuld. Wenn man versucht, das alles genau zu durchdenken, bekommt man einen Knoten im Gehirn.
Johan Richter über Schauspiel, Physik und Musik
Bist du jemand, der sich in Vorbereitung auf eine Rolle eher nach außen hin abschottet, um die Figur aus dir selbst heraus zu entwickeln? Oder bist du der Recherche-Typ? Hast du dir die Verfilmung des Stoffs mit Kate Winslet und David Kross angesehen?
Ich habe mir den Film bisher noch nicht angeschaut. Aber nicht, weil er mich beeinflussen würde. Auf mein intrinsisches Gespür für Figuren und Situationen kann ich mich ganz gut verlassen. Ich suche aber trotzdem überall nach Futter, um mich inspirieren zu lassen und meine innere Quelle aufzuladen. Über KZ-Aufseherinnen wurde sehr viel geschrieben. Und auch der Analphabetismus von Hanna ist ein Thema, das ich aufarbeiten möchte.
Wie hast du eigentlich wenige Jahre nach deinem Berufseinstieg die Corona-Zeit erlebt? Gab es Momente, in denen du an deiner Entscheidung, Schauspieler zu werden, gezweifelt hast?
Ich habe die Zeit ganz gut überstanden, das war ein riesiges Glück. Dabei hat mir das Altonaer Theater sehr geholfen, weil es uns weiterarbeiten ließ. Ich war finanziell abgesichert und konnte die zusätzliche Zeit gut nutzen. Ich habe wieder mehr Gitarre gespielt und meine frühere Leidenschaft für Physik wiederentdeckt. Diese Beschäftigungen mit anderen Dingen und Themen halten mich als Schauspieler frisch und lebendig.
Was reizt dich an der Physik?
Ohne Fantasie und eine große Vorstellungskraft ist man in der Physik völlig aufgeschmissen, weil sie uns mit Dimensionen und Dingen konfrontiert, die uns im Alltag nicht begegnen. Da gibt es für mich auch eine Verbindung zum Theater. Ich freue mich sehr, dass ich dieses kleine Spielzeug zu Hause habe, das für mich eine Art Inspirationsquelle ist. Manche Menschen meditieren oder machen Yoga. Ich untersuche physikalische Fragen.
Und die Musik? Hast du mal in einer Band gespielt?
Vor zehn Jahren hatte ich eine Band in Neugraben, die nannte sich „Barfuß Ägypten“ und ging Richtung Reggae, Dancehall, Ska. Das Feuer in mir, Musik zu machen, ist noch da und führt mich in sehr diverse Richtungen, was mir viele Themen und Welten näherbringt.
Das Theater als große Aufgabe
Welche Welt wäre für dich als Schauspieler die ideale?
Ich wünsche mir, Teil eines Ensembles zu sein und etwas aktiv mitgestalten zu können, was ich in Altona jetzt immer mehr erlebe und was mich gerade sehr erfüllt. Theater zu gestalten, ist heutzutage eine große Aufgabe: Was will man darstellen? Welche Werte will man vertreten? Welche Grenzen setzt die Moral? Welche Stücke und Autoren will man auf die Bühne bringen? Welcher Austausch findet zwischen Bühne und Gesellschaft statt?
Das klingt, als seiest du bereits am Ziel angekommen …
Ich könnte mir auch vorstellen, einmal woanders zu spielen. Ein Schritt in etwas Neues, Unbekanntes ist immer ein guter. Es geht mir darum, Erfahrungen zu sammeln, die mich auf persönlicher Ebene weiterbringen und an denen ich als Mensch wachsen kann. Dabei sollte man seine Schritte aber nicht zu sehr an seine Erwartungen und Hoffnungen knüpfen, weil dann die Enttäuschung umso großer ist, wenn man scheitert. Man sollte einfach offen sein für alles, was kommt.
„Der Vorleser“ im Altonaer Theater, 28.1. (Premiere) und weitere Termine
Diese Artikel sind zuerst in SZENE HAMBURG 01/2024 erschienen.