SZENE HAMBURG: Johanna, warum hast du den Roman „Frankenstein“ als Vorlage für deine neue Inszenierung ausgewählt?
Johanna Louise Witt: Daniel hat ihn mir vorgeschlagen, weil er glaubte, das Buch passt zu mir. Ich war sehr überrascht. Ich hatte den Roman nie gelesen, aber schon nach wenigen Seiten fand ich ihn wirklich gut. Faszinierend finde ich, dass Mary Shelley das Buch aus einem Spiel heraus entwickelt hat, als sie mit Freunden einen sehr verregneten Sommer in der Schweiz verbrachte. Man veranstaltete einen Wettbewerb, um herauszufinden, wer die beste Gruselgeschichte schreiben kann. Shelley war so angefeuert von der Idee, dass sie etwas schreiben wollte, was ihr selber das Blut in den Adern gefrieren lässt. Dass sich jemand von der Angst und Furcht so faszinieren lässt und genau dort anfängt zu suchen, fand ich extrem spannend.
Geht es dabei auch um die Angst vor dem Tod?
Ja, wie viele große Erzählungen beschäftigt sich die Geschichte mit dem Endgegner Tod und wie man ihm entgegentritt. Im Fall „Frankenstein“ wird er sogar überlistet und rückgängig gemacht. In der Rahmenhandlung unternimmt der Entdeckungsreisende Robert Walton eine Expedition zum Nordpol, was in der Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts, in der die Geschichte spielt, noch niemand in der Form nachweislich erfolgreich getan hat. Walton möchte Gefilde betreten, die niemand betreten, Orte sehen, die niemand gesehen hat. Da klingt natürlich auch die Zeit des Kolonialismus an, in der die große Faszination für das Unbekannte dazu führt, dass man viele Grenzen überschreitet. Angst und die Möglichkeit, bei einer solchen Unternehmung zu sterben, reisen dabei immer mit, denke ich. Das ist der Einsatz.
In den meisten Adaptionen des Romans kommt diese Rahmenhandlung gar nicht vor …
Bei uns wird sie zum Ausgangspunkt der Erzählung, weil ja auch Victor Frankenstein mit seiner Schöpfung versucht, etwas Neues zu entdecken und zu erschaffen, was es in dieser Form vorher noch nicht gab. Diese Neugier, die etwas Positives vorantreiben und uns ermöglichen kann, Dinge neu zu denken, läuft immer Gefahr, in monströse, grausame Gebiete vorzustoßen, aus denen Konsequenzen erwachsen, die man vielleicht gar nicht absehen konnte, für die man aber trotzdem verantwortlich ist. Dieses Dilemma finde ich extrem spannend, weil man es auch in unserer heutigen Welt und Wissenschaft ständig antrifft. Da müssen wir auf der Bühne gar nicht mit expliziten Verweisen arbeiten.
Johanna Louise Witt: „Das Erzählen von Geschichten innerhalb einer Gemeinschaft erscheint mir total wichtig“
Verurteilt Mary Shelley diesen Explorationsgeist, der keine Grenzen kennt?
Dass Victor Frankenstein keine Verantwortung für seine Schöpfung übernimmt, wird in dem Buch deutlich problematisiert. Außerdem skizziert Shelley sehr klar, wie Verantwortung mit dem Bösen zusammenhängt. Da nimmt sie fast schon heutige Erkenntnisse zu Kindererziehung und Liebesentzug vorweg. Da Mary Tochter einer gebildeten und politisch positionierten Familie war – ihre Mutter war Frauenrechtlerin – ist es durchaus mein Eindruck, dass sie eine klare Haltung zu diesem Thema hat. Aber ihr Buch ist nicht eindimensional. Sie verurteilt nicht, sondern beschreibt einen Mechanismus, der sich nicht so einfach in Gut und Böse auflösen lässt und der zur Projektionsfläche für viele andere Dinge werden kann. Das finde ich sehr viel klüger, denn mit eindimensionalen Verurteilungen lässt sich der Dialog oft nicht mehr weiterführen.
Frankenstein und das Monster zerstören die Wesen, die dem jeweils anderen am meisten bedeuten. Welche Rolle spielt diese Verhinderung von Beziehungen, Nähe und Sexualität im Roman?
Das ist ein extrem wichtiger Bestandteil dieser Geschichte. Wenn Beziehungen gekappt werden oder gar nicht erst entstehen, bekommen wir große Probleme. Das Monster wird auch dadurch zum Monster, weil es alleine ist und nur Hass erfährt. Obwohl das als alleinige Erklärung für monströses, boshaftes Verhalten sicherlich nicht ausreicht. Es geht nicht primär um Mann und Frau, sondern allgemein um menschliche Verbindungen, die Gemeinschaft. Wie jene, in der damals die Idee zu diesem Roman entstanden ist. Das Erzählen von Geschichten innerhalb einer Gemeinschaft erscheint mir total wichtig in diesen Zeiten, in denen viele dunkle Wolken aufziehen.
Wenn wir Empathie für das Monströse aufbringen sollen, darf es nicht nur abschreckend sein. Wie geht ihr mit diesem Paradoxon – auch rein äußerlich – um?
Wir wollen keine vereinfachte Schwarz-Weiß-Weltsicht liefern. Deshalb inszeniere ich ein Ensemble-Stück, bei dem alles aus der Gruppe heraus erzählt wird. Das Erzählen und Hören von Geschichten ist ja bereits ein emphatischer Vorgang. Ohnehin sind Grusel und Schrecken im Theater schwierig zu erreichen, weil die Effekte des Kinos und Computerspiels unsere Sehgewohnheiten geprägt haben. Deshalb setzen wir auf allen ästhetischen Ebenen – von Bühne, Kostüm, Musik über die Textfassung bis zur Inszenierung – auf die Fantasie. Angst machen doch immer diejenigen Dinge, die wir nicht wirklich kennen und in die wir alles Mögliche hineinprojizieren können.
Johanna Louise Witt über Monster und Unsterblichkeitsfantasien

Interessanterweise wird die Erschaffung des Monsters, die im Film immer ein großes Spektakel mit imposanten Apparaturen und Blitzeinschlägen ist, im Buch relativ kurz abgehandelt …
In der Tat übergeht Shelley manche Dinge geradezu. Sie konzentriert sich mehr auf die psychologischen Aspekte der Verantwortung und Schuld und weniger auf die wissenschaftlichen Aspekte der Wiederbelebung, die sich ja auch in kürzester Zeit überholt hätten. Wahrscheinlich wirkt der Text auch dadurch so zeitlos.
Schon im 19. Jahrhundert gab es etliche Theaterbearbeitungen des Romans. Du hast aber mit der Dramaturgin Natalja Starosta eine eigene, neue Fassung erstellt …
Ja. Wir haben das Buch eingehend analysiert. Trotz der blumigen Sprache, der poetischen Bilder und präzisen Naturbeschreibungen hat der Text einen extremen Zug, und man möchte immer wissen, wie es weitergeht. Shelley führt einen oft in die Irre, oder man sieht den Figuren zu, wie sie blind in die Gefahr hineinrennen – wie im klassischen Horrorfilm. Diese Grundzüge haben wir versucht beizubehalten.
Wir wollen keine vereinfachte Schwarz-Weiß-Weltsicht liefern
Johanna Louise Witt
Unsterblichkeitsfantasien erfahren durch die digitalen Medien einen großen Auftrieb. Die sogenannte Afterlife-Industrie boomt, die mittels künstlicher Intelligenz Tote virtuell wieder auferstehen lässt. Blüht uns, wenn wir diesen Weg weitergehen, ein ähnlich böses Erwachen wie bei „Frankenstein“?
Wir sollten bei solchen Fantasien und Entwicklungen auf der Hut sein. Aber ich möchte das Problem auch nicht vereinfachen. Dieses Aufbäumen gegen Althergebrachtes, dieser Drang, Sachen neu zu denken, um so zum Beispiel Krankheiten zu heilen, kann sehr positiv bewertet werden – auch wenn auf der Kehrseite manchmal Monströses dadurch ausgelöst wird. An dieser schmalen Grenze entstehen Möglichkeiten, über das eigene Handeln, die eigene Verantwortung nachzudenken und darüber, ab wann man sich umentscheiden und seine Stimme erheben sollte.
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 09/25 erschienen.