SZENE HAMBURG: Frau Beier, warum befassen Sie sich in Ihren Inszenierungen immer wieder mit der griechischen Mythologie?
Karin Beier: Wir beschäftigen uns seit knapp zwei Jahren mit diesen Texten, und sind immer wieder überrascht, wie unfassbar modern sie sind. Es ist fast schon schockierend, dass es gewisse Grundthemen gibt, die sich in den letzten 2500 Jahren nicht aufgelöst haben.
Ausgangspunkt Ihrer „Anthropolis“-Serie ist der Gründungsmythos der antiken Stadt Theben als Keimzelle moderner menschlicher Zivilisation …
Die Geschichte beginnt damit, dass Europa von Zeus entführt wurde, und ihr Bruder Kadmos geschickt wird, sie zu suchen. Aber das Orakel prophezeit, er wird sie nicht finden und sagt: Hetze eine Kuh und dort, wo sie zusammenbricht, gründe die Stadt Theben. Kadmos gehorcht, tötet an besagter Stelle noch einen Drachen, sät dessen Zähne aus, aus denen Soldaten erwachsen, die sich gegenseitig töten – bis auf fünf. Mit diesen erbaut er Theben. Die Stadt gründet also auf Gewalt. Schon das Hetzen der Kuh ist ein Akt der Gewalt gegen die Natur an sich, während das Töten des Drachen – so wie später das Töten der Sphinx durch Ödipus – eine Trennung von den mythischen Wesen bedeutet.
Die fünf Uraufführungen der „Anthropolis“-Serie finden vom September bis November statt. Außerdem gibt es vier Marathon-Wochenenden, an denen alle Stücke in Serie zu sehen sind. Warum haben Sie sich für einen solchen proben- und aufführungstechnischen Kraftakt entschieden?
Wir haben während Corona – mit Ausnahme einer Produktion – konsequent durchgearbeitet, viele Sachen abgelegt und später wieder aufgegriffen. Insofern haben wir in dieser Zeit gelernt, auf Halde zu produzieren. Daher haben wir jetzt auch den Mut zu solch einem Projekt fassen können. Die Proben zum ersten Stück haben vor rund 16 Monaten begonnen. Ich hoffe, wir werden uns gut erinnern, wenn wir uns den Stücken jetzt wieder nähern.
Griechischen Mythologie am Deutschen Schauspielhaus
Ist ein Serien-Projekt am Theater nicht etwas wagemutig? Wenn bei TV-Serien der Pilotfilm erfolgreich ist, gucken die Leute weiter. Aber wenn er floppt, gehen die Einschaltquoten danach eher nach unten …
So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber was heißt es eigentlich zu floppen? Obwohl es in dieser Stadt tatsächlich ein großes Geheimnis ist, was die Menschen anspricht und was nicht, bin ich sehr zuversichtlich. Die Mundpropaganda spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Davon abgesehen ist es natürlich toll, sich den gesamten Verlauf anzuschauen, aber man kann sich auch gut nur einzelne Inszenierungen der Serie angucken, ohne die anderen kennen zu müssen. Ich hoffe, der Erfolg hängt nicht nur an Folge eins.
Im Zentrum des ersten Stücks steht Dionysos, der Gott des Rausches, der Ekstase und des Wahnsinns, aber – wenn man so möchte – auch der Gründervater des Theaters. Das Dionysostheater in Athen gilt als Geburtsstätte des modernen Bühnendramas. Brauchen wir heutzutage ein rauschhafteres Theater? Ein Theater, das unser vermeintlich rationales Handeln hinterfragt und unterläuft?
Genau das ist das große Thema unserer Serie. Es gibt Dinge, die wir qua Vernunft und Wissenschaft – auf die wir heute so stolz sind – nicht steuern können. Unsere heutige Gesellschaft hat verlernt, die irrationalen, religiösen und destruktiven Kräfte zu berücksichtigen. Dazu gehört auch die Potenz von Gewalt. Außerdem bin ich ein großer Fan des sinnlichen Erzählens mittels der Kraft der Schauspieler:innen. Natürlich wünsche ich mir, dass man den Rausch des Dionysos’ in meiner Inszenierung für einen Moment auch sinnlich erfahren kann. Dass man als Zuschauer nicht bloß von außen und damit kalt auf das Geschehen blickt, sondern hineingesogen wird in einen emotionalen Zustand, um nicht allzu leicht ein Urteil fällen zu können. Es ist ja immer schön, wenn ich mich in eine Richtung verführen lasse und darüber erschrecke, was dann passiert. Dabei möchte die griechische Tragödie eigentlich immer die Mitte finden. Heute denken wir da leider sofort an Mittelmaß und finden das blöd.
Mit „Antigone“ endet die „Anthropolis“-Serie …
Hier geht es um die Frage, wie stark der Staat in die Privatsphäre eingreifen darf, und darum, dass libertäre Ansichten sich manchmal so stark radikalisieren, dass sie autoritäre Züge annehmen. Oft wird gesagt, dass Antigone, die trotz staatlichen Verbots ihren Bruder beerdigen will und sich dabei auf die Götter beruft, für Familie und Religion steht. Das wird aber im Text widerlegt, da ihre Argumentation sehr brüchig ist. Sie sagt selbst, dass sie ihren Ehemann und ihr Kind verrotten lassen würde. Antigone ist eher das, was man gemeinhin als Störenfried bezeichnet, weil sie widersprüchlich ist und keiner klaren Absicht folgt. Solche Menschen sind unangenehm, manchmal monströs, aber wichtig für die Gesellschaft, weil sie Dinge in Frage stellen und die Politik herausfordern, ohne Helden oder Märtyrer zu sein.
Die kathartische Wirkung des Theaters
Glauben Sie an die kathartische Wirkung des Theaters, wie Aristoteles sie in seiner Poetik beschreibt? Also dass das Theater uns hilft, mit unseren Ängsten, unserer Trauer und unseren Mitmenschen besser umzugehen?
Ich finde nicht, dass diese Stücke einen kathartisch entlassen. Wenn ich an das Ende von „Die Bakchen“ oder an „Antigone“ denke … Das ist so finster und voller ungelöster Konflikte, da fühle ich mich am Ende wirklich nicht moralisch gereinigt. Man ist eher schockiert über den Zustand der Welt. Glücklicherweise haben aber selbst die alten Griechen, die ja nicht für ihren Humor bekannt sind, ab und zu auch komödiantische Szenen geschrieben.
Also ist das Theater keine Möglichkeit, die unterschwellige Gewalt, die in unserer zivilisierten Gesellschaft gärt, zu bändigen oder zu kanalisieren?
Ich glaube, dass das Theater an sich – unabhängig vom gespielten Stück – eine kathartische Wirkung hat, weil ja stellvertretend für mich Menschen aus Fleisch und Blut Dinge ausleben, ausschwitzen oder ausweinen, von denen auch Rudimente in mir selbst schlummern.
„Das Theater gibt den dionysischen Gefühlen in uns einen Ort“
Karin Beier
Das Theater als Trainingscamp für Empathie?
Natürlich. Weil man hier – viel stärker als zum Beispiel im Film, wo die Menschen nicht wirklich vor mir stehen – sich selbst im Anderen erkennt. Das Potenzial unseres Zusammenlebens besteht darin, dass man in der Lage ist, verschiedene Positionen einzunehmen. Die Helden der griechischen Tragödie sind allerdings oft keine reinen Sympathieträger. Sie verhalten sich unangenehm, verkehrt, hysterisch, aggressiv oder gewalttätig. Dass man sich trotzdem mit ihnen identifiziert, finde ich ein tolles Modell.
Das Aufgehen im Anderen ist auch Bestandteil von rituellen Handlungen, auf die Sie mit Ihrem Uraufführungsmarathon in gewisser Weise ebenfalls Bezug nehmen. Bei den kultisch verwurzelten „Dionysien“ im alten Griechenland wurden an mehreren Tagen etliche Komödien und Tragödien hintereinander uraufgeführt …
Das Theater ist entstanden, um die rituellen Opferhandlungen, die irgendwo in den Bergen oder Wäldern in Kithairon stattfanden und durchaus grausam waren, zu zähmen. Dafür hat man sie in die Stadt geholt. Das Theater entstand also aus einem religiösen Opferritus und hat dessen Kräfte gebündelt. Ähnlich wie der Kölner Karneval, der ja auch exzessiv ist und gewisse, vielleicht monströse Bedürfnisse stillt und ihnen einen Raum in der Stadt gibt. Ein ganz kleines bisschen ist es immer noch die Aufgabe des Theaters, diesen dionysischen Gefühlen in uns einen Ort zu geben.
„Prolog/Dionysos“ feiert am 15. September 2023 Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus. Weitere Termine unter anderem 17. und 24. September 2023.
„Laios“, feiert am 29. September 2023 Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus. Weitere Termine unter anderem 1. und 11. Oktober 2023.
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 09/2023 erschienen.