SZENE HAMBURG: Janine Ratai, wie sind Sie in den Bereich der ambulanten Kinder- und Jugendhospizarbeit gekommen?
Janine Ratai: Ich bin selbst Kinderkrankenschwester und habe lange im UKE gearbeitet. Dort habe ich damals im onkologischen Bereich der Neuropädiatrie gearbeitet und auch die Palliativeinheit mit aufgebaut. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich die Stationsarbeit zwar fachlich noch immer sehr spannend fand, aber einfach zu wenig Zeit für die Familien hatte. Ich habe dann ein Angebot bekommen, bei einem der ambulanten Kinderhospizdienste hier in Hamburg zu arbeiten. Und auf einmal hatte ich die Zeit, die mir gefehlt hat, denn der Fokus in der ambulanten Kinder- und Jugendhospizarbeit liegt auf dem Familiensystem und allem, was damit zu tun hat. Dazu gehören Probleme und psychosoziale Thematiken, bei denen wir die Eltern unterstützen und Bedürfnisse erfassen können. Auch meine Erfahrung im pflegerischen und medizinischen Bereich, den man als Kinderkrankenschwester immer mit im Blick hat, kam mir zugute. So bin ich erst mal aus dem Klinikbereich herausgekommen und bin in die Hospizarbeit gestartet. Und es lag mir auch wirklich. Ich habe mir diesen Weg sehr bewusst ausgesucht.
Und wie kamen Sie zu KidsAnker?
Ich bin mit der Familie ins Ausland gegangen. Als ich wieder zurückgekommen bin, habe ich mit einer Freundin das Konzept für KidsAnker geschrieben. Mein Träger, die Elbdiakonie, hat mich noch bevor ich zurück war, angerufen und gefragt, wann ich wiederkommen würde und ob ich Lust hätte, etwas in diese Richtung zu machen. Aber ich wollte nicht nur den ambulanten Kinderhospizdienst, sondern auch gerne die Bereiche Beratung in Krisensituationen, Pflege und Anleitung der Eltern einbinden. So sind im Endeffekt die Grundpfeiler von KidsAnker entstanden. Das Hauptaugenmerk liegt aber auf der ambulanten Arbeit und auf dem Ehrenamt zur psychosozialen Entlastung von Familien. Uns gibt es jetzt seit 2018.
Ehrenamt als Grundpfeiler in der Familienbetreuung
Was bedeutet das Wort „Anker“ für Sie persönlich?
Für mich, und das ist ja auch der Leitspruch von KidsAnker, ist es im Endeffekt „ein Anker, wenn man ihn braucht“. Das heißt, wir ankern in den Familien, Eltern und Kinder können aber auch loslassen. Wenn nun ein Kind verstirbt, heißt das nicht, dass wir den Anker gleich lösen müssen, sondern wir können auch noch bleiben. Trauerbegleitung ist generell rein aus Spenden finanziert. Aber auch die Eltern können entscheiden, wann sie bereit sind, den Weg allein weiterzugehen. Das kann auch passieren, wenn ein Kind gesund wird. Das ist der große Vorteil, wenn man mit Kindern arbeitet. Eine Diagnose ist nicht gleichbedeutend damit, dass das Kind sterben muss. Es geht um lebensverkürzende Diagnosen, die sich aber, auch dank des medizinischen Fortschritts, in Heilung verwandeln können. Und dann kann der Anker wieder gelichtet werden.
Eine Diagnose ist nicht gleichbedeutend damit, dass das Kind sterben muss.
Janine Ratai
Für welche Familien ist das Angebot von KidsAnker gedacht, und in welchen Situationen wenden sich Menschen an Sie?
Menschen wenden sich leider immer noch viel zu wenig an uns. Das liegt aber einfach daran, dass die breite Öffentlichkeit sich kaum mit dem Thema beschäftigt. Man befasst sich nur damit, wenn man selbst betroffen ist. Es ist wichtig, den Familien klarzumachen, dass wir schon ab der Diagnose unterstützen können und unsere Arbeit auch das Ende offen lässt. Das ist der elementare Unterschied zur Erwachsenenhospizarbeit. Wenn ein Kind beispielsweise die Diagnose Leukämie bekommt, können wir in der Familie helfen. Leukämie ist heute in fast 80 bis 85 Prozent der Fälle heilbar. Und doch weiß man nie, wie es ausgeht.
Ehrenamtliche sind ein wichtiger Bestandteil bei KidsAnker. Welche Rolle spielen sie konkret in der Unterstützung der Familien?
Ehrenamt ist ein wichtiger Grundpfeiler in der Begleitung der Familie. Man trägt viel Verantwortung. Auch die Eltern bringen uns Vertrauen entgegen. Deswegen werden Ehrenamtliche von uns umfassend geschult: Krankheitsbilder, Kommunikationstraining, Abgrenzung, auch das große Thema Tod und Trauer. Es gibt aber auch viele Themen aus der Pflege und praktische Übungen. Trotzdem ist es in jeder Familie so unterschiedlich, dass man sich nicht auf alles vorbereiten kann. Grundsätzlich versuchen wir aber, mit den Eltern zusammen einen Auftrag für die Begleitung herauszuarbeiten. Der kann sich auf das erkrankte Kind, ein Geschwisterkind oder auch die Eltern beziehen und sich auch immer mal ändern, aber die Eltern teilen uns ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, ihre Sorgen mit.
Eigene Abgrenzung und Stabilität sind essenziell
Wie bereiten Sie die Ehrenamtlichen auf die emotionalen Herausforderungen dieser Arbeit vor?
In der Ehrenamtsschulung widmen wir einen großen Anteil auch dem Thema Abgrenzung, Nähe und Distanz, Umgang mit schwierigen Situationen. Grundsätzlich fängt es aber immer bei einem selbst an. Wir starten bei einer Schulung mit einem eigenen Lebensbogen und auch einer persönlichen Öffnung der Gruppe gegenüber. Denn nur wenn man selbst gestärkt ist, kann man auch in den Familien Stärke weitergeben oder eine starke Begleitung sein. Trotzdem hat jeder seine eigenen Grenzen und wir sind als Gesprächspartner immer im Hintergrund. Wir stehen in engem Kontakt mit den Ehrenamtlichen. Sie geben uns regelmäßige Rückmeldungen. Und wenn es mal Probleme geben sollte, sind wir der erste Ansprechpartner.
Wie gehen Sie persönlich mit den emotionalen Herausforderungen dieser Arbeit um?
Für mich war es auch ein hartes Lernen. Die Arbeit in der Klinik war sehr wichtig, um erste Erfahrungen zu sammeln. Da ist man schon an seine Grenzen gekommen. Ich glaube aber, dass man einmal im Leben über seine eigenen Grenzen hinausgehen muss – da rede ich jetzt nur über den professionellen Kontext – um zu wissen, wo genau sie liegen. Und dann bleibt man entweder im Job oder man geht. Ich habe so was auch erlebt, das ist schon sehr lange her, da war ich noch unerfahren in vielen Themen der Versorgung und Begleitung von Familien. Das war für meinen ganzen weiteren Weg absolut wichtig. Aber mein Fokus hat sich mit der Zeit auch geändert und ich nehme nicht mehr so viele Dinge mit nach Hause. Die eigene Abgrenzung ist wichtig. Die Arbeit zu leisten, so gut wie ich es kann, lässt mich auch beruhigt aus den Familien gehen. Man hat alles getan und auf manches hat man einfach keinen Einfluss, aber es nimmt mich nicht mehr so mit, wie es das früher getan hat. Das heißt nicht, dass es mich nicht berührt. Wenn es das nicht täte, würde ich den Job nicht mehr machen.
In der Ehrenamtsschulung widmen wir einen großen Anteil auch dem Thema Abgrenzung, Nähe und Distanz,
Janine Ratai
Vor welchen Hürden stehen Sie beim Ehrenamt und der Kinderhospizarbeit aktuell?
Es bräuchte noch mehr Entgegenkommen. Wertschätzung ist ein wichtiges Thema. Viele Ehrenamtliche wollen ihr Engagement gar nicht öffentlich machen, sie unterstützen aus eigenem Antrieb. Trotzdem finde ich, dass Wertschätzung für das Ehrenamt noch zu wenig Anklang in der Öffentlichkeit findet. Jetzt gibt es die Engagement-Karte fürs Ehrenamt. Das ist schon mal ein Schritt, aber es ist noch zu wenig.
Die Schwere aufbrechen
Wie kann man KidsAnker unterstützen?
Man kann uns in alle Richtungen unterstützen. Zum Beispiel kann man in Geschäften und bei Events Spendenbüchsen aufstellen. Wenn man Ideen hat für Aktionen gemeinsam mit den erkrankten Kindern oder mit den Ehrenamtlichen, geht das natürlich auch. Auch auf Social Media kann man uns folgen und unterstützen. Bei der ehrenamtlichen Mitarbeit sind besonders die Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit für die Familien wichtig. Man braucht aber keine medizinische oder pflegerische Vorbildung. Empathie und eine Haltung muss man haben. Allerdings wäre es zunächst ein Ausschlusskriterium, wenn sich eine an der ehrenamtlichen Mitarbeit interessierte Person zurzeit selbst in akuter Trauer befindet. Die eigene Stabilität ist essenziell. Wir suchen auch im Moment engagierte Ehrenamtliche, die sich die Zeit nehmen und die Familien unterstützen können. Wir sind auch in Niedersachsen und Schleswig-Holstein vertreten. Dort, wo unsere Ehrenamtlichen wohnen, können wir auch Familien unterstützen.
Ich glaube, dass man einmal im Leben über seine eigenen Grenzen hinausgehen muss
Janine Ratai
Was wünschen Sie sich, dass mehr Menschen über die Kinderhospizarbeit wissen?
Bei dem Wort Hospiz schwingt immer eine Schwere mit. Das muss man aufbrechen. Für mich steht nicht diese Schwere im Vordergrund. Sie ist natürlich immer auch da, weil die Diagnose schwer ist. Die Übersetzung des Wortes ist eigentlich sehr schön: Herberge – für uns bedeutet das auch Gastfreundschaft: „Wir kommen zu euch nach Hause.“ Aber das Wort ist besetzt. Bei uns geht es um Lebensbegleitung. Natürlich ist eine Diagnose für eine Familie immer schwer, aber grundsätzlich geht es darum, das Leben so schön wie möglich zu beschreiten, in welcher Phase man sich auch immer befindet.
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 11/2024 erschienen.