Die Regisseurin Karin Beier hat am Deutschen Schauspielhaus Shakespeares „König Lear“ inszeniert – als endzeitliches Cross-Gender-Spiel.
Wie irre darf einer genannt werden, wenn die ganze Welt verrückt spielt? Ist das die Frage, mit der Schauspielhausintendantin Karin Beier sich dem komplexen Shakespeare-Drama „König Lear“ nähern wollte?
Wie Statisten, die auf ihren Einsatz warten, lungern die neun Schauspieler in dem weißen Guckkasten herum. Allen voran Edgar Selge als Lear, ein gebrochener, jähzorniger alter Mann, der sein Reich in Form eines gigantischen Perserteppichs unter seinen drei Töchtern Goneril, Regan und Cordelia aufteilen, sich zuvor aber ihrer Liebe versichern möchte.
Das geht gründlich schief, denn während Carlo Ljubek und Samuel Weiss sich als giftig konkurrierende Transvestiten à la Conchita Wurst singenderweise bei ihrem Vater erfolgreich einschleimen, geht Lina Beckmanns Cordelia, die ihrem Erzeuger als einzige wahrhafte Gefühle entgegenbringt, leer aus. Eine Entscheidung mit fatalen Folgen.
Edmund ist wie Lear einer, der naiv in sein Unglück stolpert
Fatal ist auch, wie vordergründig Regisseurin Beier sich verschiedenster theatraler Mittel bedient, um einen Stoff effektvoll aufzupeppen, zu dem ihr offenbar nicht viel eingefallen ist. Während die Figuren ihre Konflikte vorzugsweise schreiend austragen und Yuko Suzuki an Klavier und Elektronik unterschwellig bedrohliche Minimalismen beisteuert, wie man sie aus Arte-Dokumentarfilmen kennt, turnen Selges Lear und Jan-Peter Kampwirths Edgar über lange Strecken nackt über die Bühne.
Edmund ist wie Lear einer, der naiv in sein Unglück stolpert und der berechnenden Maskerade des überformten Kulturmenschen nicht gewachsen ist. In der Rolle seines intriganten Gegenspielers und Halbbruders Edmund bringt Sandra Gerling das Cross-Gender-Spiel der drei Negativ-Figuren auf den Punkt: „Fühl dich wohl in deiner Haut oder näh dich um!“
Während Goneril, Regan und Edmund am Ende als bizarre, außerzivilisatorische Wesen mit Körperbemalung und ausladendem Federschmuck wie erstarrte Götzenbilder dem Geschehen beiwohnen, ist Lear im weißen Patientenhemd endgültig in der geschlossenen Psychiatrie angekommen. Einziger Lichtblick in dieser dreistündigen Entthronung des berühmten Königsdramas mit problematischer Sprechakustik: die großartige Lina Beckmann als Lears anhänglicher, geistig zurückgebliebener Narr, der seine Bezugsperson liebevoll „Munkel“ nennt und nicht nur mit seinen unkontrollierten Gesichtszuckungen für viele Lacher sorgt.
Text: Sören Ingwersen
Fotos: Matthias Horn
„König Lear“: Deutsches Schauspielhaus, nächste Vorstellungen am 21., 27., 30. November
Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG Stadtmagazin, November 2018. Das Magazin ist seit dem 27. Oktober 2018 im Handel und zeitlos im Online Shop oder als ePaper erhältlich!