Leben mit Assistenz: „Ich kann fast nichts allein“

Ein Leben ohne fremde Hilfe ist nicht möglich. Unsere Autorin Anastasia Umrik kennt das nicht anders. Und ist darum heute Arbeitgeberin: Mehr als 40 Frauen haben sie in den letzten zehn Jahren begleitet. Ab 1. Februar ist wieder eine Stelle frei.

Keine 08/15 Sache

Kurz vor meinem 21. Geburtstag, kurz vor dem Ende meiner Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau: Seit zwei Minuten fühle ich mich sehr erwachsen: Soeben bin ich in meine erste eigene Wohnung gezogen. YEAH! Der Hunger meldet sich und ich überlege kurz, wie noch mal die fremde Person in meiner Wohnung heißt. „Lisa?“, rufe ich den Namen meiner neuen Assistentin noch etwas unsicher. „Kannst du mir bitte die Pizza in den Ofen schieben?“ Ich kann das nämlich nicht allein. Ich kann fast nichts allein.

Zehn Jahre später: „Was ist gelb und weht im Wind?“, fragt die junge Frau, die bei mir als Assistentin arbeitet, und macht gerade den Wasserkocher an. „Weiß nicht …“, sage ich und grinse, ahnend dass es einer dieser Witze ist, bei dem man Augen rollend schmunzelt. „Eine Fahnaneee!!!“, sagt sie und lacht laut auf. Wir haben den gleichen Sinn für doofe Witze, uns beiden stehen Lachtränen in den Augen. Es klingelt an der Tür, der Postbote wahrscheinlich. Mein lautloses Handy blinkt ununterbrochen, der Wasserkocher ist fertig, die Musik dudelt im Wohnzimmer, ich erinnere mich an meine To-do-Liste … Der neue Tag hat begonnen, der Alltag hat mich wieder. Ich bewege mich Richtung Wohnzimmer und schließe die Tür – und erkläre meiner Assistentin nicht warum, was bei mir heute alles auf dem Zettel steht, und warum ich unsere morgendliche Unterhaltung so abrupt unterbrechen musste. Das muss sie nicht wissen, ich rufe sie, wenn ich ihre Hilfe benötige.

Keine 08/15-Managerin

In den zehn Jahren, in denen ich allein wohne, haben mich über vierzig verschiedene Frauen im Alltag unterstützt. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Berufsbranchen: Studentinnen, Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Mütter. Sie sind mutig und wollen etwas Neues ausprobieren, sie suchen nach Sicherheit und gleichzeitig Flexibilität – beides kann ich ihnen bieten – und sind körperlich in der Lage, meine muskelschwachen Arme durch ihre zu ergänzen. Alle mich betreffenden Entscheidungen fälle ich selbst: Wie möchte ich meinen Tag gestalten? Wo? Mit wem? Was ist mir dabei wichtig? Lediglich das Warum erkläre ich selten. Hier habe ich für mich meine persönliche Grenze beschlossen.

Jede vermeintliche Kleinigkeit muss ich kommunizieren und sehr transparent mit meinen Bedürfnissen und Emotionen sein. Aus welchem Glas ich trinken und welchen Kugelschreiber in der Hand halten möchte. Wie das Essen gewürzt sein soll und ob die Kerzen auf dem Tisch angezündet werden sollen. Ich formuliere, wie ich die Wäsche gewaschen haben möchte, und sage sehr genau, auf welche Art und Weise die Fenster geputzt werden sollen. Durch die klare Kommunikation habe ich zu vielen Sachen auch eine klare Meinung, die musste ich mir allerdings einst erst bilden. Auch über meine emotionale Verfassung spreche ich meistens sehr offen, um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: „Ich möchte heute lieber allein sein, eine geschlossene Tür wäre mir lieb.“

Professionalität, Grenzen und gleichzeitig herzliche Offenheit war für mich von Anfang an ein großes Thema. Wie nah darf oder möchte ich meine Assistentinnen an mich heranlassen und wie viel möchte ich aus deren Leben überhaupt wissen? Ich mag alle Menschen, die ich meine Wohnung betreten lasse, und ich verquatsche mich unheimlich gern mit ihnen. Meine Assistentinnen sind eine Inspirationsquelle für mich. Durch die unterschiedlichsten Lebensweisen und Altersklassen nehme ich sehr viel mit, erfahre über neue Welten und habe dann das Gefühl, selbst ein Stück von ihrem Alltag gelebt zu haben. Bei all dem großartigen Austausch darf ich nicht vergessen, dass mein eigenes Leben, gefüllt mit vielen tollen Freunden, einem sehr spannenden Beruf und einer viel zu kurz kommenden Freizeit, weiterhin gelebt und erfahren werden will.

Das Leben mit Assistenz gleicht einer Unternehmensführung. Und zum Chefsein gehören klare Kommunikation und Grenzen, aber auch das Können, den Mitarbeiter*innen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Ach, und die Einsatzpläne wollen erstellt, die Abrechnungen gemacht und das Geld überwiesen werden.

Das Modell der persönlichen Assistenz ist für mich die größte Freiheit, die ich mir jemals hätte erträumen können. Ich reise, ich gehe aus, ich arbeite, ich treffe Freunde, ich führe meinen Haushalt und kann meine ganz persönlichen Gewohnheiten ausleben. Mir begegnen hier Menschen, die hätte ich in einem Leben ohne Assistenz niemals getroffen, nie hätte ich diese Dinge gelernt und erfahren, die ich hier – einfach so – hören darf.

Kein 08/15-Job

Wie jeder Job hat auch dieser Vor- und Nachteile. Das Besondere bei diesem Job ist die Gelegenheit, etwas Sinnvolles für Geld zu tun, einen Einblick in ein neues Lebenskonzept zu bekommen und durch die finanzielle Sicherheit mehr Zeit für die Verwirklichung der eigenen Projekte zu haben. Hier lernen alle Beteiligten in erster Linie etwas über sich und ihre Grenzen, aber auch über die Kommunikation und die 1:1-Zusammenarbeit.
Für mich arbeiten immer fünf bis sieben Assistentinnen gleichzeitig in wechselnden Schichten. Eine normale Schicht beginnt gegen Mittag und dauert in der Regel 24 Stunden. Die Aufgabe der Assistenz: Sie muss in dieser Zeit mein verlängerter Arm sein. Es ist nicht leicht, denn es erfordert ein Höchstmaß an emotionaler Flexibilität. Ob ich zu Hause bleibe oder viel auf dem Programm steht, bei guter oder schlechter Laune, unabhängig vom Wetter und eigenen Bedürfnissen: Bestimmte Dinge müssen gemacht werden. Die aktive Teilnahme an Diskussionen oder Events ist für die Assistentin nicht möglich, denn sie ist lediglich ein Schatten, der immer in die Sichtbarkeit rückt, wenn er gebraucht wird.

Als ich Ewgenia frage, was ihr die Arbeit mit mir bedeutet, überlegt sie nicht lang: „Für mich liegt die Herausforderung dieser Arbeit darin, mich, meine Befindlichkeiten, Meinungen, und Vorstellungen selbst zurückzustellen und dabei trotzdem authentisch zu bleiben. Und das ist gleichzeitig auch das Schönste – nicht die hohe Sicherheit der Anstellung, die hohe Flexibilität und genug Zeit für Eigenes, sondern genau diese Balance, die es erlaubt, dass zwischen uns eine besondere Kommunikation entsteht. Sie gibt mir das Gefühl, ein Teil von etwas Größerem zu sein und wirklich zu helfen.“ Seit fast drei Jahren ist sie nun schon bei mir. Ob wir Freundinnen seien, werde ich oft gefragt. Darüber müssen wir beide immer schmunzeln, weil wir inzwischen ein gutes Team miteinander sind, viele Dinge funktionieren wortlos über Augenkontakt, sodass wir synchron nebeneinander wirken.

Ich lehne das Prinzip „Freundschaft“ nicht partout ab. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man sich mag, wenn man über die gleichen Dinge lacht und ähnliche politische Ansichten hat. Auch der ähnliche Stil ist nicht unwichtig, schließlich begleiten mich die Assistentinnen den ganzen Tag. Dennoch darf die Freundschaft nicht die Priorität sein, wenn man den Arbeitsvertrag unterschreibt. Es ist in erster Linie ein Arbeitsverhältnis, das Ziel ist klar: Die Absicherung unserer beider Leben. Es ist wie mit der Liebe: Es ist wie es ist, manchmal entstehen Dinge und Gefühle, dagegen sollte man sich nicht sträuben, finde ich.

Ab 1. Februar ist wieder eine Stelle frei. Bewerbungen an info@anastasia-umrik.de

Text: Anastasia Umrik / Foto: Philipp Jung


Mehr Geschichten rund um das Thema Inklusion gibt es in unserem Special „Vielfalt leben“, das zusammen mit der Dezember-Ausgabe der SZENE HAMBURG erschienen ist. Hier geht’s zum PDF der aktuellen Ausgabe.

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