Orientierung in einer zunehmend komplexen Welt bieten: Das ist das Ziel der Lessing-Tage 20223 des Thalia Theaters. Vom 25. Januar bis 12. Februar 2023 widmet sich das Theaterfestival aktuellen und brisanten Themen und experimentiert mit Darstellungsformen. Bei einem Gastspiel verbringt das Publikum sogar die ganze Nacht im Theater
Text: Marina Höfker und Dagmar Ellen Fischer
„Um alles in der Welt“ geht es von Beginn an bei dem im Thalia Theater beheimateten Festival, den Lessing-Tagen. Allerdings sei die heutige Welt im Ausnahmezustand nur schwer lesbar, sie gleiche einem Wimmelbild, konstatiert Thalia-Intendant Joachim Lux. Und er hofft, das Theater kann möglicherweise Verständnishilfen bieten. In jedem Fall kann die (stilistische) Vielfalt der bei den Lessing-Tagen 2023 eingeladenen internationalen Produktionen die Komplexität der uns umgebenden Wirklichkeit abbilden. Sie reiche von intelligentem Entertainment, Performance, Musiktheater, Installation, Sprechtheater, Lecture Performance bis hin zu Dokumentartheater. Ferner gehören Stadtführungen, Diskussionen, Konzerte und Lesungen zum Rahmenprogramm.
„Bomb Shelter“ will Krieg in der Ukraine erfahrbar machen
Doch nicht nur die Darstellungsformen sind vielfältig, auch thematisch deckt das Festival einiges ab. Einer der Schwerpunkte ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Ein besonders experimenteller Zugang zu dem Thema dürfte das Gastspiel „Bomb Shelter“ sein. Das Publikum verbringt dabei die ganze Nacht im Theater und taucht in eine Parallelwelt ein, die für viele Ukrainer gerade Wirklichkeit ist.
Inszeniert wird ein Schutzbunker, der mit Matratzen und dem Sound des Krieges erfahrbar gemacht werden soll. Während des siebenstündigen Erlebnisses wird es immer wieder entsprechende Live-Konzerte, Performances, Videokunst und Lesungen geben. Die Inszenierung versteht sich als Versuch, den Ausnahmezustand zwischen Überforderung und Warten erfahrbar zu machen.
Lessing-Tage mit preisgekröntem Regisseur Taylor Mac
Der New Yorker Taylor Mac erzählt seine Sicht auf die Geschichte der USA, von der Unabhängigkeitserklärung bis ins 21. Jahrhundert, entlang von 246 Songs, die unterdrückte Randgruppen in den Fokus rückt; das für den Pulitzer-Preis nominierte Original dauert 24 Stunden, extra für die Lessing-Tage schuf der Schauspieler und Sänger eine zweistündige Spezialausgabe seines Welterfolgs „A 24-Decade History of Popular Music“.
Das estnische Regie-Duo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo inszeniert mit „72 Days“ in einem Mix aus Performance, Choreographie und Theater weibliche Erfahrungswelten. Dabei kommen sie ganz ohne Sprache raus: Begleitet von einem fesselnden Soundtrack zeigen elf Darstellerinnen flüchtige Bilder von Themen wie Vertreibung, Arbeit und Begehren aus der Perspektive von Frauen.
Mit den beiden ehemaligen Thalia-Schauspielerinnen Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska inszeniert Nicolas Stemann Sophokles‘ antikes Drama „Ödipus Tyrann“. Der Hamburger, inzwischen Intendant am Schauspielhaus Zürich, bearbeitete den Stoff unter dem Aspekt der Schuld-Frage.
Starregisseur Romeo Castellucci zu Gast am Thalia Theater
Von beklemmender Aktualität ist auch das Abschluss-Projekt der Lessing-Tage 2023. In „Sich waffnend gegen einen See von Plagen“ von der Schaubühne am Lehniner Platz aus Berlin untersuchen Theatermacher aus Kiew, was mit den Körpern von Schauspielern geschieht, wenn sie zur Waffe greifen müssen. In der Ukraine geht es wahrlich um alles. Erstmals am Alstertor zu sehen ist eine Inszenierung des italienischen Starregisseurs Romeo Castellucci: Für „Bros“ (englische Kurzform für „Brüder“) rekrutiert er in der jeweiligen Gastspiel-Stadt 20 Amateurdarsteller, steckt sie in Polizeiuniformen und lässt sie mit blutroten Gesichtern aufmarschieren. Über Kopfhörer empfangen sie Befehle, die sie ausführen müssen, ohne sie zu hinterfragen, so Castelluccis Regieanweisung.