Bericht von einer überzeugten St. Paulianerin, die auszog und ihr Glück in der Hamburger Neustadt fand
Eigentlich ist Romek hier der Chef. Das wusste ich aber damals noch nicht, als ich herzog, vor vier Jahren. Wie so vieles andere. Ich dachte: Hier wohnt doch niemand. Hier ist nichts. Ein blinder Fleck in meiner Stadt; ein Rewe um die Ecke, ein kurzer Arbeitsweg, aber für alles andere muss man es wohl verlassen, dieses Viertel, das die Touristen besser kennen als die Hamburger. Am Ende meiner Straße steht ein Schiff – immerhin, das kann nicht jeder sagen. Ich jedoch hätte viel lieber einen Budni, einen Schreibwarenladen, einen Schuster am Ende meiner Straße gesehen.
Es ist alles ein bisschen gelb hier
Das gibt es hier aber nicht. Dafür sehr viele, wirklich sehr, sehr viele Menschen, die irre langsam über Bürgersteige schlurfen, Speisekartenaushänge an Restaurants studieren, immer wieder abrupt stehen bleiben, um mit den Fingern auf ein Buddelschiff in einem Schaufenster zu zeigen. „Wohnen, wo andere Urlaub machen“ – so würde es wahrscheinlich in der Maklerbroschüre stehen. Was das mit den Menschen macht, die hier leben, auch das wusste ich damals noch nicht. Ich dachte: Wahrscheinlich wollen die immer nur weg.
Gegenüber von meinem Haus gibt es eine kleine Kneipe. Es ist alles ein bisschen gelb hier, und es herrscht ein liebevolles Durcheinander. Und wie in jeder ordentlichen Dorfkaschemme trifft man genau da die Leute, die unser kleines Viertel ausmachen. Ich lerne, dass es einen „Bürgermeister“ gibt, jeder Zweite einen zweckmäßigen Spitznamen trägt, einige sogar hier geboren sind, und oft ist auch Romek hier. Der achtet darauf, dass keine Männer in langen Mänteln reinkommen – die mag er nämlich nicht.
Wer hier einmal wohnt, der bleibt
Im Sommer gehen die Nachbarn raus aus der Kneipe, sitzen auch mal woanders. Auf der Michelwiese zum Beispiel. Dann warten sie gemeinsam darauf, dass endlich die Brunnenfontäne angeht. Denn erst dann ist richtig Sommer. Überhaupt: die Wiese. Nicht nur Treffpunkt, sondern auch Grenze. Zu dem Gebiet der Neustadt, das wir hier gerne Wellnessviertel nennen. Weil es da ruhiger ist. Manche von da drüben trauen sich nur abends ins Portugiesenviertel, dann huschen sie schnell durch die Straßen in unser kleines Dorf, rein in die Kneipe. Dahin, wo all die anderen sind, die hier nie wieder wegwollen. Jetzt weiß ich: Wer hier einmal wohnt, der bleibt.
Hier ist immer jemand, der mir einen „Galao“ hinhält
Als ich herzog, dachte ich, hier könnte ich auf die Straße treten, ohne wie damals in der Schanze oder auf Pauli in die leeren Gesichter der letzten Nacht zu fallen. Ich dachte, ich könnte einfach mal meine Ruhe haben. Heute freue ich mich darüber, dass immer jemand da ist, der mir einen „Galao“ hinhält, mich zum Grillen auf die Wiese einlädt oder mit mir den Quatsch von der Arbeit durchkaut.
Ja, es gibt hier tatsächlich alles, was ich brauche. Nämlich supergute Menschen, die auf ihrer kleinen Insel so fest zusammenhalten, als würden sie sonst einfach ins Hafenbecken plumpsen. Oder vom Touristenstrom mitgerissen werden. Und eben Romek, den kleinen schwarzen Hund, der hier tagtäglich seine Runden dreht und auf uns alle aufpasst.
Foto: Ariane Gramelspacher
Zur Autorin
Wiebke Anabess Kuhn, 43, war lange Jahre überzeugte St. Paulianerin. Die reine Verzweiflung trieb sie vor vier Jahren in die Neustadt. Dort musste sie feststellen: Es gibt doch ein Hamburg außerhalb der „üblichen Viertel“ – und zwar ein verdammt schönes!
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