Literatur-Ressortleiterin Jenny V. Wirschky weiß, was unsere Leser lesen wollen. Oder sollten. Hier gibt sie euch ihre persönlichen Lese-Empfehlungen
Ich bin Vegetarierin, seit ich 14 bin. Die seitdem vergangenen 18 Jahre sind gespickt von Phasen des straighten Veganismus und des zögerlichen Fischessens, von ideologischen Anfeindungen und liebevollen Missionierungsversuchen. Doch eines war beständig: Ich hatte immer die Wahl. Ich konnte selbst entscheiden, ob ich Tiere esse, oder nur das, was keinen Schatten wirft. Es war stets eine Frage meiner ethischen Überzeugungen, meiner Freiheit und meines Selbstbildes. Nur möglich dadurch, dass ich in einer Familie und einer Gesellschaft groß wurde, die all das unterstützt oder zumindest toleriert hat.
Ganz anders das Leben der Protagonistin Yong-Hye in der Erzählung Die Vegetarierin. Autorin Han Kang lässt ihre Hauptfigur nur im Traum zu Wort kommen, die eigentliche Geschichte ist die innerfamiliäre Perspektive auf Yong-Hye. Mit diesem Stilmittel gelingt hier etwas, das andere Romane über gewaltvolle Gesellschaftsformen sonst schnell ins Plakative treiben lässt: Die Erzählerin zeigt durch das Nichtbenannte wie vollkommen unterdrückt ihre Heldin ist. Und wie autoritär diese südkoreanische Familienbande auf ein Individuum wirkt, das versucht auszubrechen – einzig durch die Wahl dessen, was es essen will und was nicht.
Doch es geht hier weder der Heldin Yong-Hye noch ihrer Umwelt um die Nahrung als solche. Es geht um Befreiung, Loslösung – und letztlich um die Auslöschung des Selbst als einzigen Ausweg aus einer allgemein akzeptierten Unterdrückung des Menschen. Han Kang erzeugt ihre Charaktere mit Bestimmtheit, ohne je trivial zu werden und bei aller Düsterheit glänzt die Varianz ihrer Sprache ganz erstaunlich. So wechselt sie souverän zwischen flacher Rede ohne Tiefsinn und Komplexität und einer kunstreichen Perspektive auf Nebenschauplätze, zwischen interessanten Reflexionen mit voraussetzungsvollen Begriffen und einer gekonnt schlichten Sprache. Schlicht besonders.
Han Kang, Die Vegetarierin, Aufbau Verlag 2016, 190 Seiten, 18,95 Euro
Who the fuck is… Jenny?
Name: Jenny V. Wirschky
Alter: 32
Ressort: Literatur
Buch für eine einsame Insel: Gustav Schwabs „Sagen des Klassischen Altertums“
Muss ich endlich mal lesen: Das Alte Testament und Marx‘ Kapital
Was wir alle lesen müssten:
Prosa: Der Meister und Margarita (Michael Bulgakow)
Lyrik: Liebe Anarchie (Axel Reitel)
Philosophie: Dialektik der Aufklärung (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno)