Tanja Schwarz ist eine echte literarische Entdeckung. In ihrem fulminanten Geschichtenband „In neuem Licht“ lässt sie die unterschiedlichsten Lebenslinien aufeinandertreffen. Oft sind es Geflüchtete und Frauen aus dem liberalen, prekären Bürgertum, die durch politische und private Krisen aus ihrer saturierten Starre erwachen
Interview: Ulrich Thiele
SZENE HAMBURG: Frau Schwarz, Ihr Buch trägt die Gattungsbezeichnung „Romanminiaturen“. Was ist der Unterschied zu Erzählungen?
Tanja Schwarz: Ich dachte zuerst, ich hätte Erzählungen oder etwas lang geratene Kurzgeschichten geschrieben. Dann sagten mir meine Testleser, dass man aus jedem der Texte einen Roman machen könnte. Das trifft durchaus zu, es sind auf 30 Seiten komprimierte Geschichten, die ich problemlos hätte verlängern können. Habe ich aber nicht.
Warum nicht? Die Texte sind über einen relativ langen Zeitraum entstanden und meine Lebenssituation hat eine ganze Zeit lang nicht hergegeben, lange Texte zu schreiben. Ich habe eine große Patchworkfamilie und hatte immer verschiedene Jobs. Die Miniaturen waren für mich eine Möglichkeit, meine Erfahrungen zu verarbeiten, ohne mich zwei Jahre zurückziehen zu müssen.
Autobiografisch? Eher nicht.
Sie haben unter anderem Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, so wie Lene in „Datteln aus Mekka“.
Ich habe auch Kinder, so wie viele der Frauenfiguren im Buch. Allerdings habe ich alles stark verändert, Sie würden in keiner Geschichte eins zu eins etwas Autobiografisches herauslesen können. Ich habe versucht, Einzelaspekte aus meinen Erfahrungen herauszugreifen und in einer Waswäre-wenn-Situation zu beleuchten.
Auffällig oft im Rahmen des aktuellen zeithistorischen Kontextes, Stichwort Fluchtbewegungen.
In meinem Großstadtalltag als mittelalte Frau versuche ich, irgendwie am Zeitgeschehen teilzunehmen. Ich will die Kreuzungen erkunden, wo sich Lebenslinien treffen. Deswegen spielen zeitgeschichtliche Aspekte eine Rolle, wenn etwa in „Datteln in Mekka“ Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen in einem Deutschkurs aufeinandertreffen oder in „Unabomber“ ein junger Flüchtling in das Leben einer mittelalten Frau tritt und ihren Alltag umkrempelt.
Was drängt Sie zu diesen Erkundungen?
Dass ich so vieles nicht verstehe. Das Schreiben ist für mich ein Ankämpfen gegen eine ungeheure Fülle an Eindrücken, die mir im Alltag begegnen und die sich alle zuwiderlaufen, überlagern, ergänzen. Wo Dissonanzen passieren und Menschen sich gegenseitig nicht verstehen. Wenn man zum Beispiel einen Deutschkurs für Geflüchtete leitet oder wenn man Kinder hat, sieht man diese Menschen nie in ihrer ganzen Persönlichkeit. Mir geht es darum, zu erkennen, was uns trennt und behindert und die Grenzen der eigenen Wahrnehmung, die blinden Flecken zu berühren.
Lebendigkeit durch Tragik?
Ist Ihnen aufgefallen, dass viele der Figuren sich gerade dann besonders lebendig fühlen, wenn sie im Kontrast zu zerbrechenden Menschen stehen? Zum Beispiel die Erzählerin der ersten Geschichte, „Sonnenwende“, als sie trotz ihrer Trauer über ihre schwächer werdende Mutter paradoxerweise eine elementare Ekstase spürt.
In der Geschichte spielt eine wesentliche Rolle, dass sie keine gute Beziehung zu ihrer Mutter hat und erst in der Auflösung der Persönlichkeit ihrer Mutter wieder einen elementaren Zugang zu ihr findet und eine Beziehung zu ihr aufnehmen kann. Da war etwas auf eine ungute Art verfestigt und ist nun in Bewegung geraten. Was gut ist, auch wenn der Grund – Krankheit und Verfall – ein trauriger ist.
Ein zentrales Motiv ist die Entfremdung, mit der eine für Städter typische Natursehnsucht nach etwas Elementarem einhergeht. Sie wohnen in Eimsbüttel, haben seit einiger Zeit auch einen Acker in Vierlanden. Sie kennen diese Sehnsucht also selbst.
Ja, mit Sicherheit. Dabei spielt natürlich auch ein lebensgeschichtlicher Aspekt eine Rolle, nämlich der, dass ich nicht mehr ganz jung bin und das Stadtleben mit seiner Reizüberflutung mich dazu verleitet, mich auf meine Herkunft zu besinnen.
Dieses Besinnen überkommt die Protagonistin in „Sonnenwende“, weil sie mehrere Einschnitte zu verarbeiten hat. Unter anderem das Gebrechlichwerden ihrer Mutter, das sie zurücksehnen lässt. Das ist verständlich, hat aber immer etwas Ambivalentes.
Zumal die eigene Herkunftsstadt als Lebensort überhaupt nicht mehr in Betracht kommt, wenn man älter ist. Man hat sich die meiste Zeit seines Lebens ganz weit davon entfernt. Nach alle den Jahren hat die Protagonistin Sehnsucht nach dem Körper ihrer Mutter, der aber bereits zerfallen ist. Oder nach einer Landschaft, die zwar noch steht, die sie aber nicht mehr bewohnen kann, weil sie sich woanders verwurzelt hat. Diese Sehnsucht bleibt etwas Körperliches und Landschaftliches, aber alles Lebensgeschichtliche hat sich davon entfernt.
Zu Hause geerdet
Erwischen Sie sich manchmal dabei, wie Sie in ein verklärendes Bullerbü-Phantasma abdriften?
Nee, da bin ich nicht der Typ für. Mein Acker in Vierlanden ist auch nicht idyllisch. Ich habe dort eine günstige Hütte bekommen, die eigentlich eine Obdachlosenunterkunft sein sollte. Was ein interessanter Berührungspunkt ist — da sollten obdachlose Menschen unterkommen, aber die Stadt Hamburg wollte sie letztlich doch nicht so im Stadtbild haben.
Was hat Sie dorthin gezogen?
Der Kontakt zur Erde und zur Natur, der mit beschwerlicher Gartenarbeit verbunden ist. Ständig wächst mir das Unkraut über den Kopf und ich bin von Insekten zerstochen. Es ist ein intensiver Kontakt, aber nicht so lieblich, wie man sich das vorstellt. Der Acker ist für mich ein Gegenpol zu der Lautstärke und Schnelligkeit. Gerade in der Corona-Zeit habe ich gemerkt, dass er mir guttut und ich gar nicht zurückwill zu einer Normalität, die sowieso immer viel zu sehr auf höher, schneller, weiter getaktet war. Sie sagten mal, wenn Sie Zauberkräfte hätten, würden Sie als erstes den Kapitalismus abschaffen. Gilt das noch?
Auf jeden Fall!
Wie sieht Ihre utopische Alternative aus?
Ich bin nicht kühn genug, um politische Utopien zu formulieren. Ich bin nur davon überzeugt, dass wir andere Formen finden müssen, weil der Kapitalismus ein Übermaß erzeugt, das uns allen um die Ohren fliegt. Die Naturzerstörung, die Ausbeutung von Menschen, die damit verbundenen Wanderungsbewegungen. Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen, deswegen ist etwas in der Welt aus dem Gleichgewicht geraten und wir beginnen, die Folgen dieses Umbruchs zu spüren.
Hamburg spezieller als Berlin
Haben Ihre Romanminiaturen etwas Hamburg-spezifisches oder ist der Ort austauschbar?
Ich erlebe Hamburg als eine Stadt, wo sich besonders viele solcher von mir untersuchten Lebenslinien kreuzen. Das gilt bestimmt auch für Berlin, aber ich finde sie hier spezieller. Das ist schon in der Landschaft dadurch angelegt, dass die Elbe in die Stadt fließt und die Welt zu uns reinfährt, irgendwelche Sachen ablädt, die gar nicht hierhergehören, und wieder abhaut.
Nicht zu vergessen das soziale Gefälle.
Absolut. Ich wohne auf einer Bruchlinie, wo auf der einen Straßenseite die Grindelallee mit seinen Shishabars liegt, auf der anderen Seite Harvestehude mit seinen privilegierten Menschen. Da liegen verschiedene Schichten ganz eng beeinander.
In „Datteln aus Mekka“ wird das westliche Überlegenheitsgefühl gebrochen, das mit dem sozialen Gefälle einhergeht. Die geflüchteten Frauen, die in armen Gegenden wohnen, haben Mitleid mit ihrer Lehrerin Lene.
Sie finden sie viel zu dünn und ihr Mann lässt sie Fahrrad fahren, deswegen könne der Mann nichts taugen. Es sind einfach andere Wertmaßstäbe. Das westliche Überlegenheitsgefühl relativiert sich im Kennenlernen mit diesen Menschen, die große Qualitäten, Kreativität und Kräfte haben, die sie überleben lassen haben. Und trotzdem verhält sich Europa, als müsste es Menschen abwehren und als dürfte nicht jeder teilnehmen. Da möchte ich dringend benötigte Informationen einbringen.
Das Cover zeigt eine Herbstlandschaft. Wie finden Sie es?
Die Landschaft hat etwas Bedrohliches, zugleich aber auch etwas untergründig Bewegtes und dann ist das Bild auch noch zerschnitten. Das gefällt mir und passt gut zur programmatischen Perspektivenvielfalt.
Tanja Schwarz: „In neuem Licht“, hanserblau, 272 Seiten, 22 Euro. Autorenlesung am am 7.10. in der Buchhandlung cohen+dobernigg, 20.30 Uhr (2G-Veranstaltung)
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Oktober 2021. Das Magazin ist seit dem 30. September 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!