SZENE HAMBURG: Thomas, wovor hat man als Marionettenspieler eigentlich am meisten Angst?
Hinter den Kulissen ist der Platz für die Marionettenspieler nicht gerade üppig bemessen …
Es ist eine große logistische Herausforderung, diese ganze Bühnenmaschinerie hier so unterzubekommen, dass sie für zwei Personen auch handhabbar bleibt. Wir waren bis vor Kurzem noch zu dritt, aber ein Kollege ist ausgestiegen. Deshalb war es wichtig, ein Programm zu bauen, das wir auch zu zweit spielen können.
Wie lange habt ihr an „Wind in den Weiden“ nach dem Kinderbuchklassiker von Kenneth Grahame gearbeitet?
Ungefähr drei Jahre. Zuerst habe ich den Sprechtext geschrieben, dann die Figuren und zum Schluss die Kulissen gebaut, und Diana Skoda, mit der ich seit zwölf Jahren zusammenspiele, hat die Bühnenbilder gemalt. Meine Mutter ist Schneiderin im Ruhestand und macht die Kostüme. Das letzte Dreivierteljahr haben wir an der Inszenierung gearbeitet.
Und während der Proben ist die Bühne dann für Aufführungen blockiert?
Diese Monate muss man sich tatsächlich finanziell aus den Rippen schwitzen, weil es keine Einnahmen gibt. Mit Förderungen ist es auch schwierig, weil unsere Geschichten eher zeitlos sind und nicht die Innovation haben, die die meisten Förderer erwarten.
Geschichten zum Leben erwecken
Nach welchen Kriterien suchst du deine Geschichten aus?
Sie muss mich natürlich ansprechen, sie muss aber auch mit den begrenzten Mitteln des Marionettentheaters erzählbar sein. Während des Spiels lotet man also ständig die Grenzen des Mach- und Darstellbaren aus. Wir erzählen ja auch nur das zentrale, titelgebende Buchkapitel „Der Pfeifer an den Pforten der Dämmerung“: Der Maulwurf und die Ratte suchen den kleinen verloren gegangenen Otter und treffen bei einer nächtlichen Flussfahrt auf den Schatten des Gottes Pan, der auf der Flöte spielt.
Die Musik ist eine Besonderheit in euren Produktionen …
Für die letzten sechs Inszenierungen wurde sie von Christine K. Brückner komponiert. Wenn wir mit Live-Musik aufführen, spielt sie Akkordeon im Trio mit Geigerin Dorothea Geiger und Querflötistin Mareike Beinert. Mit diesem Ensemble bin ich wirklich sehr glücklich.
Ihr spielt aber nicht nur klassische Kinderstoffe …
Das Kinderstück „Eine Reise in die kleine Welt“ habe ich selbst geschrieben. Außerdem spiele ich ein Szenenprogramm ohne Worte und ab 9. März auch das Stück „Danse Antigrav – Über das Marionettentheater“ für Erwachsene. Das findet an zwei Wochenenden im kleinen Kreis – für etwas 15 Zuschauer – statt. Es ist eine Annäherung an den philosophischen Aufsatz von Heinrich von Kleist mit Workshop-Charakter: Dabei wollen wir uns nicht nur über den Verstand dem Text nähern, sondern das Ganze auch mit der Marionette ausprobieren.
Die Verbindung von Mensch und Marionette
Kleist behauptet, die perfekte Anmut und Grazie, wie wir sie uns von einem Tänzer wünschen, könne nur die Marionette erreichen, weil sie kein Bewusstsein hat. Der Spieler müsse sich nur mit seiner Seele in ihren Schwerpunkt versetzen und alle übrigen Glieder folgen der Bewegung in vollkommener Harmonie von allein. Taugt diese Beschreibung tatsächlich für die Praxis des Marionettenspiels?
Wenn ich das Boot mit der Ratte bewege, ohne die Figur selbst zu bespielen, scheint sie allein durch mechanische Gesetzmäßigkeiten – durch die Art der Verbindungen der einzelnen Glieder – lebendig zu werden. Noch bevor ich mein Bewusstsein in die Figur hineinlege, ist die Bewegung – wenn man Kleist hier folgen will – schon harmonisch und eigentlich perfekt. Aber das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn es einen guten Mechaniker gibt, der die Marionette baut, und einen Künstler, der sie führt. Dadurch, dass der Marionettenspieler sein Bewusstsein in die Figur gibt, und diese es als Medium weiter nach außen leitet, lässt sich der Effekt des In-sich-Perfekten noch steigern.
Inwiefern spielen Kleists Gedanken schon beim Bau der Marionette eine Rolle?
Am Spielkreuz gibt es zum Beispiel eine mechanische Kopplung von Kopf und Händen. Die lässt sich einstellen. Wenn ich dann den Kopf drehe, bewegt sich im harmonischen Maß die Hand automatisch mit. Hier habe ich den kleistschen Gedanken übernommen, dass eine harmonische Bewegung beim Spiel ganz von selbst entsteht.
Und wie entstand die Idee, aus Kleists Text ein Stück zu machen?
Ich habe das Stück eigentlich für die Erika Klütz Schule für Theatertanz und Tanzpädagogik entwickelt. Dort arbeite ich einmal im Jahr mit den Schülerinnen. Ich zeige ihnen, wie Marionetten funktionieren und gehe dann in den Tanz der Figur, auf den die Tänzerin mit ihren Bewegungen einwirkt. So entstehen tolle Bilder und Geschichten, die sich der Betrachter im Kopf selbst zusammenbaut.
Ursprünglich war das Marionettentheater ja eine eher simple Form der Jahrmarktsunterhaltung für Menschen, die sich das Theater nicht leisten konnten. War Kleist seiner Zeit voraus?
Schon zu Kleists Zeit wurde die Spielform des künstlerischen Marionettentheaters recht populär. In München eröffnete 1858 das erste stationäre Marionettentheater. Mit Entstehung des Films Ende des Jahrhunderts – besonders des Trickfilms – wurde es dann zur Randerscheinung.
Während des Spiels lotet man ständig die Grenzen des Mach- und Darstellbaren aus
Thomas Zürn
„Wesentlich ist das Illusionsangebot“
Spürst du, dass die Sehgewohnheiten der Kinder sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren geändert haben?
Nein. Die Sehgewohnheiten von Kindern – ich empfehle „Wind in den Weiden“ ab fünf Jahren – sind noch nicht voll ausgeprägt. Sie sind ebenso offen für die schnellen Schnitte aus dem Fernsehen wie für das langsame, plastische, lebendige Spiel bei uns. Wesentlich ist das Illusionsangebot.
Wie wird man eigentlich Marionettenspieler?
Ich habe in München Holzbildhauer gelernt und danach selbstständig in der Restauration gearbeitet. Im Alter von 26 Jahren entstand der Wunsch, meine künstlerische Tätigkeit zu erweitern. Ich bewarb mich bei Gerhards Marionettentheater in Schwäbisch-Hall, wo ich dann sieben Jahre lang als Holzbildhauer angestellt war – das war mein Einstieg ins neue Milieu. Im Jahr 2000 habe ich mich dann selbstständig gemacht.
Warum?
Im Gerhard Marionettentheater wurde – wie an vielen anderen Marionettenbühnen auch – mit vorproduziertem Tonband gespielt. Dadurch ist man als Spieler viel unfreier. Das war für mich der Hauptgrund zu gehen. Ich vermisste die Einheit von Spielen und Sprechen, die für mich sehr viel lebendiger ist.
Bis Mitte März spielt ihr noch im Jenisch Haus. Im Juli und August dann wieder im Theaterzelt im Botanischen Garten in Klein Flottbek …
… und dazwischen im Mai auf der Kulturelle Landpartie im Wendland. Wir werden „Wind in den Weiden“ in diesem Jahr rund hundert Mal aufführen.
Und in drei Jahren winkt die nächste Neuproduktion?
Dies ist mein elftes Programm. Es kann sein, dass ich es erst mal dabei belasse und mich noch in andere Richtungen entwickle, wobei das Figurentheater im Zentrum meines Interesses bleibt. Wir haben jetzt fünf große Programme für die Guckkastenbühne gebaut – da platzt irgendwann auch das Lager für die Bühnenbauten. Dieses Stück bekomme ich gerade noch unter. Danach wird es kompliziert.
Jenisch Haus, Wind in den Weiden, am 2. und 3. März 2024 im Jenisch Haus, 3.3.; Danse Antigrav – Über das Marionettentheater, am 9., 10., 16. und 17. März 2024 im Jenisch Haus
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 03/2024 erschienen.