Was passiert wenn die bildstarken Zeitsignaturen des Michel Majerus auf die dezidierte Zeitkritik von Cory Arcangel treffen, das ist noch bis zum 12. Februar 2023 im Kunstverein zu erleben
Text: Karin Schulze
Für Ende 2002 plante die Berliner Galerie neugerriemschneider eine Ausstellung mit Hans-Jörg Mayer und Michel Majerus. Letzterer war damals binnen weniger Jahre – etwa durch eine spektakuläre Malerei in Form einer Halfpipe – von einem der „hoffnungsvollsten Jungkünstler Berlins“ („Der Spiegel“) zum „zeitgenössischten unter den Malern“ (Daniel Birnbaum) geworden. Die Schau sollte „Letzte Tage“ heißen. Wenige Wochen vor der Eröffnung klang der Titel plötzlich nach düsterer Vorahnung: Am 6. November stürzte ein Passagierflugzeug auf dem Flug von Berlin nach Luxemburg ab. Unter den 20 Toten war auch der damals 35-jährige Michel Majerus.
Michel Majerus, die „Bildaufbearbeitungsmaschine“
Majerus war ein Künstler, der filmend, fotografierend und skizzierend Wirklichkeitspartikel vor allem der Populärkultur aufsaugte, diese mit Schnipseln aus der Kunstgeschichte mixte, mit künstlerischen und digitalen Verfahren prozessierte und mit meist leuchtenden Acrylfarben auf viel Weiß wieder hinausschleuderte. Die poppige Oberfläche seiner Werke verriet ihn als Warhol-Nachfolger. Dessen antischöpferische Verfahren und kühle Ikonen erweiterte Majerus um Teletubbys, Videospiel-Figuren wie Super Mario und andere populäre Mythen. „Bildaufbearbeitungsmaschine“ hat ihn ein Kunstpublizist mal genannt.
Eine Farbschlinge, ein Signet, zwei sich kreuzende Linien – viele der ausgestellten kleinen quadratischen Bilder scheinen nur als Zitate aus komplexeren Bildzusammenhängen Sinn zu machen. Größere dagegen wirken aus sich heraus kraftvoll: das Schwarz-weiße etwa, das in einem Flirt mit düsterer minimalistischserieller Malerei die Alien-Reihen des frühen Computerspiels „Space Invaders“ aufmarschieren lässt. Das Bildbeschleunigung-Bild „MoM Block I“, das die Ästhetik von Photoshop ins Rasende dynamisiert. Oder die Installation „the space is where you find it“, die mit üppiger Motivik und der räumlichen Enge der bedruckten Vinylwände und -säulen die Betrachtenden optisch in die Mangel nimmt.
Der Event zum Tod des Malers ist etwas groß geraten
Neben der Hamburger Schau laufen in Berlin vier Ausstellungen. Dazu zeigen 13 Museen zwischen Wolfsburg und München ihre Majerus-Bestände. Damit ist der Event zum 20. Todestag des Malers etwas groß geraten. Denn: Obwohl Majerus auch düstere Chiffren setzt – etwa mit dem Verweis auf den Hacker Tron und seinen rätselhaften Tod –, dominiert eine unbekümmerte Ästhetik. Was im Kontext des politischen wie digitalen Optimismus der 1990er-Jahre passte, wirkt heute ein wenig fluffig.
Zwar hat Majerus auch mitunter politische Embleme verwendet, aber nur eine größere Arbeit von ihm hat einen eindeutig gegenwartskritischen Drive: Im September 2002 als das Brandenburger Tor renoviert wurde, ließ er zusammen mit Thomas Bayrle Planen, die dessen gesamte Ostseite verdeckten, mit einer Fotoansicht des Schöneberger „Sozialpalast“ überziehen und verpflanzte damit das Abbild einer Berliner Brennpunkt-Immobilie in die Renommiergegend des Pariser Platzes.
Die Nutzer sind delirierend im unendlichen Spaß des Ding- und Datenkonsums verfangen
Anders Cory Arcangel. Im kleineren unteren KV-Ausstellungsraum verlängert der in Norwegen lebende Künstler die Medienreflexion Majerus’ in die Gegenwart und setzt dezidiert zeitkritische Akzente. Arcangel hat im Hafen von Stavanger die 136-Meter-Yacht „Flying Fox“ geknipst. Die Ansicht einer Etage dieser schwimmenden Luxus-Mobilie zieht sich als Bildtapete rings um den Ausstellungsraum. Vor dem Hintergrund eines Megareichtums, wie er durch Web 2.0- oder Erdöl-Unternehmen generiert wird, zeigt der Künstler zwei Videoarbeiten seiner Werkserie „Runners“. Über zwei Displays in groß gezogenem Smartphone-Format laufen Instagram-Feeds des Ölkonzerns Conoco-Phillips und von Amazon – beide durch unablässiges Scrollen und Liken vorangetrieben.
Vielleicht kann man diese Installation so lesen: Während Amazon seine Mitarbeiter verbrennt und der Energieriese die Erde verheizt, sind wir Nutzer delirierend im unendlichen Spaß des Ding- und Datenkonsums verfangen. Und nur den superreichen, die Klimakrise beschleunigenden Megaplayern steht es offen, sich mit ihren Schiffen, die beweglichen Inselstaaten gleichen, an die letzten lebenswerten Realräume dieser Erde zu schippern.
Michel Majerus: Data Streaming & Cory Arcangel: Flying Foxes. Noch bis zum 12. Februar 2023 im Kunstverein