Nachts auf dem Großmarkt

Großmarkt 3

Seit das Mehr! Theater in den Großmarkt zog, wird in den Hallen gerockt, während Händler nebenan ihre Stände aufbauen. Ein Spannungsfeld

Flutlicht fällt auf das nasse Pflaster des Hamburger Großmarktes. Unwirklich ruhig wirkt das Gelände. An der stählernen Eingangspforte stehen Ordner mit gelben Warnwesten in der Abgeschiedenheit. Auf der Rampe nebenan hat ein Fernfahrer seinen 40-Tonner geparkt, die Gardinen sind zugezogen. „Andreas“ steht auf dem kleinen Deko-Nummernschild hinter der Windschutzscheibe. Kaum zu glauben, dass an diesem Freitagabend wenige Schritte von ihm entfernt 3.000 Menschen tanzen, feiern und mit Bierbechern schmeißen werden.

Vor genau einem Jahr ist das Mehr! Theater auf eine rund 4.000 Quadratmeter große Teilfläche in die denkmalgeschützen Hallen des Warenumschlagsplatzes in Hammerbrook gezogen. Seitdem betreten nicht nur Händler und Gastronome das eingezäunte Gelände, ein Konzertticket öffnet jedem die Pforte. Dort, wo sonst in der Nacht und am frühen Morgen ausschließlich Blumen, Obst und Gemüse verkauft wurden, finden nun auch Konzerte, Zaubershows und Firmenfeiern statt.

Mehr TheaterBisher mieteten sich vor allem Musicalproduktionen wie „Dirty Dancing“, „Queen“ und aktuell „Elisabeth“ in das Multifunktionstheater der „Mehr! Entertainment GmbH“ ein. Inzwischen stehen immer mehr Konzerte auf dem Plan. Anfang Februar sogar ein Rockkonzert: Die Band Madsen aus dem Wendland gibt hier das bisher größte Einzelkonzert ihrer Karriere. Alle Tickets sind verkauft, das herbeiströmende Publikum angesichts der ungewohnten Industriekulisse irritiert. So auch Daniela und Andreas, sie haben Madsen zuletzt im Molotow gesehen. „Wir kommen aus Schleswig-Holstein und haben die Adresse in unser Navigationsgerät eingegeben“, erzählen sie. „Als es uns auf dieses Gelände lotste, haben wir nicht schlecht geschaut.“ Noch etwas skeptisch stehen sie im Foyer, die Vorband ist gerade fertig. Kann der Funke überspringen?

„Alter Schwede, seit ihr viele!“

Er kann, und wie! Madsen stürmen die Bühne und geben Vollgas. Nach einer dreisekündigen Aufwärmphase rastet das Publikum aus – springt, singt, erste Becher werden geworfen. „Der Sound ist geil!“ schreit ein junger Bartträger seiner Freundin zu, die singt laut mit: „Mord und Totschlag, Menschenhass …“ Es riecht nach Bier und Energydrinks.

Sänger Sebastian Madsen trägt eine Kapitänsmütze, schaut in den Saal und ruft: „Alter Schwede, seit ihr viele!“ Wer auf der Tribüne sitzt, hat den besten Blick auf die Moshpits: Das Publikum weicht auseinander, als würde sich ein kreisförmiges Loch im Boden auftun. Dann stürmen Halbstarke in die Mitte und pogen mit freiem Oberkörper.

Schließlich wechseln die Rollen und die Fans singen für die Band ihren Ohrwurm „Du schreibst Geschichte“. Tausende Stimmen hallen von den alten Backsteinmauern wider. Das hat etwas Sakrales. Im Rücken der Feiernden tickt eine große alte Uhr. Reichlich symbolisch, scheint doch mit dem Einzug des Mehr! Theaters auf dem Gelände eine neue Zeit angebrochen zu sein – eine, in der sich der Großmarkt für den Stadtteil öffnet.

Der Handel hat in Hammerbrook eine lange Tradition. 1958 wurde mit dem Bau der Großmarkthallen begonnen, nachdem zuvor unter freiem Himmel gekauft und verkauft wurde. Seit vielen Jahrzehnten ist das 27,3 Hektar große Gelände nördlich des Oberhafens der führende Umschlagplatz für Obst, Gemüse und Blumen, ein Frischezentrum, das auch Käufer aus Skandinavien nach Hamburg zieht. 1996 wurde die auffällige Betonschalenkonstruktion des Architekten Bernhard Hermkes unter Denkmalschutz gestellt.

Gegen Mitternacht, wenn die meisten Konzertbesucher entweder im Bett liegen oder bereits am Tresen einer Kneipe stehen, geht das Leben auf dem Großmarkt erst richtig los. Nur eine massive Stahltür vom Theater getrennt, betritt man eine andere Welt – eine, in der Gabelstapler durch die Gänge flitzen, es nach Erdbeeren und Birnen riecht und Männer dreckige Witze reißen.

Reiner Fröhlich, ein stattlicher Kerl mit Aufsehermütze, ein goldener Ring baumelt an seinem linken Ohrläppchen, kennt sie alle. Der Marktpolizist ist ein sympathischer Typ, der gerne aus dem Nähkästchen plaudert und plötzlich streng die Augenbrauen zusammenzieht, wenn man gegen die Marktordnung verstößt. Er hält rasende Gabelstaplerfahrer an, kümmert sich um Ausweispapiere, die Vermietung von Parkplätzen und diverse andere Dinge.

Seit zwanzig Jahren macht er den Job und kann sich nichts anderes vorstellen. „Auch wenn die Arbeitszeiten ungewöhnlich sind und das Privatleben beeinflussen“, sagt er. Jede Nacht dreht Reiner Fröhlich seine Runden, vorbei an den Apfelkisten der Firma Elbgarten, den Südfrüchten von Pilz Schindler und den Hülsenfrüchten von Stoltzenberg Nuss. „Moin Wolfgang. Moin Kostas. Moin Ayhan“, sagt er dann. „Oh, Kontrolle“, schallt es oft zurück. „Du musst mal darauf achten“, erklärt der Ordnungshüter. „Wenn ich loslaufe, zücken viele ihr Handy, um die Kollegen zu warnen. Das 2008 eingeführte Rauchverbot nehmen nicht alle so genau.“ Früher war das halt so, dass man bei Kaffee und Zigarette kurz Klönschnack hielt.

GroßmarktReiner Fröhlich hat Angst um seinen Großmarkt – davor, dass die Politik bereits einen Plan in der Schublade liegen hat, der das alles hier gefährdet. Tatsächlich ist das zentral gelegene Gelände beliebt, ein Filetstück auf dem Immobilienmarkt. Bis 2034 gibt es eine Standortgarantie – aber was dann? „Machen wir uns doch nichts vor. Wenn ein Investor an die Rathaustür klopft und ein paar Millionen im Gepäck hat, denn steht das hier alles auf wackeligen Füßen.“

Zudem scheint die Kommunikation zwischen der Geschäftsführung und den Händlern nicht immer glücklich. Als dem Mehr! Theater ein Teil der Fläche zugesprochen wurde, stiftete das zunächst große Unruhe. „Die Händler erfuhren davon aus der Presse“, erinnert sich Reiner Fröhlich. Einige mussten mit ihren Ständen umziehen.

Der Großmarkt hat Nachwuchsprobleme

Dass sich der Großmarkt zum Stadtteil hin öffnet, kommt nicht von ungefähr. Die Branche hat ein Nachwuchsproblem. Die Arbeit ist ein Knochenjob. Man kann sein Geld heute deutlich komfortabler verdienen und zu humaneren Uhrzeiten. So geht die Zahl der Händler zurück. Davon spricht auch Hans-Wilhelm Otte. Sein Ur-Großvater war bereits Großmarkthändler. Er habe drei Söhne, von denen aber niemand das Familienunternehmen weiterführen wolle. Er könne das gut verstehen.

Sein Stand ist mit historischen Fotografien dekoriert. Eine Aufnahme von 1956 zeigt das wuselige Treiben auf dem Großmarkt am Stadtdeich, westlich des heutigen Standorts. Männer ziehen hölzerne Sackkarren zwischen Türmen aus Obstkisten hinter sich her. Damals war der Markt quasi konkurrenzlos. Heute versorgen Supermärkte und große Discounter aber auch eigene Logistikzentren die selbstständigen Einzelhändler, Köche großer Restaurants und Wochenmarkthändler.

Die Geschäftsführung des Großmarktes hält nach alternativen Nutzungsmöglichkeiten die Augen offen. In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt vom Mai 2015 sprach die neue Marktchefin Eliane Steinmeyer darüber, dass sie die Auslastung in den Hallen langfristig hochhalten wolle. Nach dem Einzug des Mehr! Theaters gebe es bereits Pläne für ein Restaurant und einen Markt für Endverbraucher.

Das begrüßt auch Klaus Oetzel, der im Oktober 2015 die Leitung des Mehr! Theaters am Großmarkt übernahm. „Im Hinblick auf die neue Nutzung der ,City Süd‘, den vielen neuen Wohnungen, die dort gebaut werden, wäre eine weitere Öffnung eine große Nummer“, sagt er hinter den Kulissen nach dem Madsen-Konzert. Auch eine stärkere kulturelle Nutzung schließe er nicht aus.

Thomas Mehlbeer, zuständig für Kommunikation am Mehr! Theater, ergänzt: „Hammerbrook ist ein Stadtteil, in dem nun viel passiert. Der Wohnungsbau, das Theater, Clubs und Gastronomie werden sich entwickeln. Mit der steigenden Wohnbevölkerung kommt auch mehr Leben, dann schließen die Cafés nicht schon um 18 Uhr, wenn die Mitarbeiter der Büros Feierabend machen.“

Von dieser Entwicklung bleibt auch der Großmarkt nicht unberührt. Nachdem 4.000 Quadratmeter bereits abgetreten wurden, gebe es in den Hallen aktuell keine freien Flächen, meint Klaus Oetzel. Wenn man aber in fünf Jahren mit einer weiteren Abnahme der Händler kalkuliere, dann könne die bestehende Handelsfläche weiter verkleinert werden. Trotzdem betonen sowohl Theatermacher als auch Marktleitung, dass der Schwerpunkt der Handel bleibe, auch in Anbetracht der Bestandsgarantie.

Das Madsen-Konzert ist vorbei. Glückliche Fans strömen aus der Halle, darunter Manuel, dessen Locken an seiner schweißnassen Stirn pappen. „Das war der Wahnsinn. Die Stimmung war wie bei einem Wohnzimmerkonzert, nur halt in einem verdammt riesigen Haus.“ Sein Weg zur S-Bahn-Station Hammerbrook führt an Stahlzäunen vorbei, über die breite Amsinckstraße und dann den Mittelkanal entlang, der von Bürobauten eingesäumt wird. Etwas gruselig ist das schon, aber man geht ja in einem ziemlich großen Trupp.

Text: Lena Frommeyer
Fotos: Philipp Schmidt

Mehr! Theater am Großmarkt, Banksstraße 28, (Hammerbrook)

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