„Ich habe aus dem Herzen gesprochen“

Hêja Netirk saß als kurdische Aktivistin neun Monate in Istanbul in Untersuchungshaft, 2018 gelang ihr die Flucht nach Deutschland. Hêja verarbeitet ihre Erfahrungen in Songs, Theaterstücken und Filmen. Kürzlich erschien ihr Debütalbum „Pistepistek Bilind“. Im März 2023 ist sie unsere Hamburgerin des Monats
„Ich benutze meine Erlebnisse in meinem Schaffen“: Hêja Netirk (©Dilşad Şîrvan)
„Ich benutze meine Erlebnisse in meinem Schaffen“: Hêja Netirk (©Dilşad Şîrvan)

SZENE HAMBURG: Hêja, warum wurdest du in der Türkei verhaftet?

Hêja Netirk: Es reicht, als Kurdin politisch aktiv zu sein. Aktuell sind 20.000 kurdische Aktivistinnen in Haft. Mir wurde unterstellt, Selbstmordattentäterin zu sein. Aber ich bin am Leben. Das ist schon krass. Mein Großvater war in meiner Geburtsstadt Mardin Bürgermeister. 2016 wurden in mehr als 30 kurdischen Städten kurdische Politiker von ihren Posten enthoben. Einer davon war mein Großvater. Er heißt Ahmet „Türk“, also unser offizieller Nachname ist „Türke“. Wir sind aber sehr kurdisch und keine Türken. Und „Netirk“ bedeutet auf Kurdisch „Nichttürkin“.

Kurdische Namen waren lange verboten in der Türkei.

„Hêja“ ist kurdisch und bedeutet „wertvoll“. Meine Großmutter hat auf dem Amt gesagt: „Während des türkischen Kinderfests ist ein japanisches Mädchen zu mir gekommen. Ihr Name war Hêja. Ich habe dieses Mädchen geliebt und möchte meine Enkelin nach ihr Hêja nennen“. Normalerweise wäre Hêja nicht erlaubt. Ihr Trick hat funktioniert. Japanisch ist okay, aber Kurdisch ist nicht okay.

Geflüchtet / im Exil

Woher kommt dieser Hass?

Das ist die gleiche Geschichte wie in jeder Form des Kolonialismus. Du übst Macht aus, denkst, die Menschen gehören dir. Die türkische Armee zwingt kurdische Frauen zu systematischer Prostitution. Täglich sterben kurdische Kinder durch türkische Panzer. Natürlich haben wir Kurden nicht alles akzeptiert. Wir kämpfen seit Jahrzehnten dagegen. Auch mit Waffen. Leider ist die kurdische Bewegung auch in Deutschland als Terrororganisation gelistet. Die Türkei ist NATO-Mitglied und Deutschland ein Verbündeter. Es ist immer die Frage: Woher kommt Gewalt? Wenn die Gewalt vom Staat kommt, sind es Regeln. Wenn sie gegen den Staat geht, ist sie Terrorismus.

Hast du türkische Freunde?

Ich habe türkische Freunde, und das sind richtig gute Menschen. Sie würden auch meine Kritik an den Türken akzeptieren. Ich war zu einer Gesprächsrunde im Thalia Theater eingeladen. Ich habe aus dem Herzen raus gesprochen. Das wurde als problematisch empfunden: Ich hätte die Türken generalisiert. Generalisieren heißt in höflichem Ton, dass man Rassist ist. Ich kann gegenüber Türken nicht rassistisch sein. Rassismus ist ein System. Das ist immer von oben nach unten, von den Mächtigen zu den Unterdrückten.

Wie gehst du mit Heimweh um?

Zu Deutschen sage ich: Ich bin eine Geflüchtete. Zu Kurden: Ich bin im Exil. Exil heißt, du darfst irgendwo nicht sein. Exil ist die Abwesenheit von allen Plätzen, die du kennst, von allen Personen, die du kennst. Das ist eine traurige Einsamkeit. Meine Strategie dagegen: Nicht stoppen. Wenn ich stoppe, denke ich über mein Leben nach. Ich muss arbeiten. Ich benutze meine Erlebnisse in meinem Schaffen. Das ist ein Weg, mich zu therapieren. Ich meine: Wie kann ich eine lustige Geschichte erzählen, wenn ich so viel Schmerz erlebt habe.

„Ich erzähle von den kleinen Dingen“

Vor Kurzem hast du dein Debütalbum „Pistepistek Bilind“ („Hohes Flüstern“) veröffentlicht. Du vertonst moderne kurdische Poesie mit zeitgenössischer Musik wie Electronica oder Rock.

Die Kolonialisierung retraditionalisiert unsere Kultur. Wir singen traditionelle Lieder, damit sie nicht verloren gehen. Junge Menschen hören Techno und andere Genres. In anderen Sprachen als Kurdisch. Kurdisch ist immer die Sprache der Folklore, die Sprache, die nicht mehr lebt. 80 Prozent der Kurden in der Türkei sprechen nicht mehr Kurdisch. Da habe ich ein Problem damit.

Gibt es ein übergeordnetes Thema?

Ich habe Literatur studiert, die Geschichte ist das Wichtigste. Ich erzähle von den kleinen Dingen, nicht nur von den großen. In dem Song „Pistepistek Bilind“ geht es um den heimatlosen Jungen Hemo. Hemo ist Schuhputzer in den Straßen von Damaskus. Er putzt die Schuhe von Lehrern, von Händlern, von Soldaten, von Spionen, von guten und von schlechten Menschen. Nur die von Gott putzt er nicht. Er glaubt: In einer anderen Welt würde ein Kurde Gottes Schuhe putzen. Und dieser Kurde kann er sein. Aber dann fragt er: Mama, wie groß sind die Füße von Gott? Welche Schuhgröße hat er? Und was ist mit Geld? Wie viel würde Gott dem kleinen, heimatlosen Hemo zahlen?

Wenn es um Kurden geht, haben die Deutschen keine Ahnung

Hêja Netirk

Du schreibst Songs, spielst Theater, machst Filme, hast das Musikduo „Birds of Babylon“ gegründet. Wirst du dabei von Hamburg unterstützt?

Ich bin Stipendiatin der Hamburger Claussen-Simon-Stiftung, die begabte junge Menschen fördert. Ich bin die einzige weibliche Alumna des Programms „Intro“ für geflüchtete Kunstschaffende. Es gibt nicht so viel weibliche Geflüchtete (lacht). „Pistepistek Bilind“ wurde von der „Initiative Musik“ gefördert. Ich habe eine Medienweiterbildung gemacht für „Menschen mit Fluchtgeschichte“. Immer wieder diese Fluchtgeschichte!

„Ich muss meine neue Identität verdauen“

Fühlst du dich auf deine Fluchtgeschichte reduziert?

Wenn ich dir in Deutschland sage, ich bin Türke, dann hast du ein Bild davon. Wenn es um Kurden geht, haben die Deutschen keine Ahnung. Sie wissen nur, dass ich Flüchtling bin. Ohne diese Geschichte existiere ich nicht. Dadurch habe ich eine neue Identität gewonnen. Wenn ich mich irgendwo vorstelle, sage ich: Ich bin ein Flüchtling. Dann fragen mich Leute, warum ich das immer sagen würde. Ich antworte: Ich muss meine neue Identität verdauen (lacht).

In dem Phoenix-Film „Die Nackte“, der auch auf Youtube läuft, verarbeitest du deine Fluchterfahrungen. Es fällt der Satz „They wanted me in a cage. But I wanted to fly“. Wie zufrieden bis du fünf Jahre später mit deiner Flughöhe?

(Lacht) Im Vergleich zu Mitgeflüchteten bin ich in einer guten Lage hier. Ich weiß das. Aber ich weiß auch: Ich habe mir dafür sehr viel Mühe gegeben. Ich weiß, dass diese Wege nicht so offen sind. Ich habe diesen Film an einer Medienschule geschrieben, und sie haben meinen Film gewählt. Aber ich bin das Subjekt. Ich würde lieber einen Film über die Deutschen machen, wie lustig die sind. Ich wäre dann in einer mächtigen Position.

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Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 03/2023 erschienen.

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